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Meine wichtigste Geschichte, 2. Teil

Kaum angekommen auf der Insel Iwaishima, begannen auch schon die Interviews. Aktivisten, Widerstand und eine Überlebende der Atombombe von Hiroshima – alle lebten sie auf der kleinen Insel in der Seto-SeeFortsetzung von Teil 1

Anmerkung: Alle Bilder in Schwarz/Weiß sind von einem analogen SW-Film

Die Landung mit dem Boot war unspektakulär. Keiner war am Hafen, keiner fragte uns, was wir hier machen. Dabei hät ich so gern erzählt, dass ich als Journalist in wichtiger Mission unterwegs bin.


Neueste Inselnachrichten – News über aktuelle AKW-Entwicklungen, wie bei Luther an die Tür genagelt.

Unsere Fährmänner setzten nach einem zehnminütigen Gang durch die Insel ohne Abschied das Segel.
Wir schauten uns die Insel an.

Meine Begleiterin ist Architektin. Für ihre Firma bereist sie das ganze Land und schaut sich die Stein-Fundamente japanischer Schlösser an. Hier war sie noch nie, obwohl die Insel Iwaishima japanweit bekannt ist für ihre Steinmauern. Ihrem Spezialgebiet. Ganz Japan kennt auch das lokale Schweinefleisch, welches regelmäßig in Wettbewerben als das Beste im Land ausgezeichnet wird. Die Tiere laufen hier frei durch die Wälder, ohne Antibiotika, ohne Chemie.
Viele kennen Iwaishima für das naturverbundene, traditionelle Leben. Die AKW-Geschichte ist im Zusammenhang mit der Insel nur eine Fußnote. Wenn überhaupt.

Die luftgetrockneten Algen der Insel werden in Tokyo als teure Delikatesse angeboten.

Am Hafen entdeckte uns dann Yamato vom Tag zuvor. Er fuhr grad nachhause und wir sollen hinten auf die Ablage springen. Inseltaxi.

Er müsse noch kurz die Algen kochen, dann hätte er Zeit für ein Interview. Aber bitte nicht zu lang. Seit fünf Uhr früh hat er auf der Farm zu tun und er würde sich gerne nochmal hinlegen.

Durch den Dampf stellte ich meine Fragen. Viele hatte ich eh nicht mehr. Es ging vorrangig um die Leute, mit denen ich noch auf der Insel sprechen wollte. Mit den Aktivisten. Im Nebensatz erzählte er dann noch, dass fünf Häuser weiter auch eine Überlebende Atombombe wohnt. Mit 85 Jahren war sie die Leiterin des Widerstands gegen das Atomkraftwerk.

Ich gab Yamato zu den Algen noch eine Packung Kit Kat und ging meine Notizen durch.

Mich überrascht heute, dass mich überhaupt einer ernst nehmen konnt. So mit meinen langen Haaren, der Mütze und meiner Aufmachung. Da kommt so ein 22 jähriger Spund auf ihre Insel und will im fernen Deutschland drüber berichten. Falls einer fragte, machte ich mich älter. Ich wäre 27, frisch aus der Uni. Aber ich sehe doch so jung aus für mein Alter. Jaja, das hör ich öfter…
Aber es funktionierte. Es funktionierte, weil ich selbst an die Geschichte glaubte, und auch daran, dass ich sie erzählen muss. Das gab mir Sicherheit, wenn schon es mein Handwerk nicht tat.
Und wenn ich mir heute die Fotos von damals anschaue. Ojeoje.

Auf zu den Aktivisten. Auf der kleinen Insel leben knapp 360 Menschen. Alles ist leicht zu erlaufen. In weniger als fünf Minuten hatten wir das richtige Haus gefunden. Die Tür war natürlich offen, wie in jedem anderen Haus auf der Insel auch.

Die „Kayak-Aktivisten“, wie sie genannt wurden, waren junge Leute aus ganz Japan. Ihr Name kommt von der Art ihres Protests: Mit Kayaks haben sie auf dem Meer die Transportschiffe zur Baustelle blockiert. Stets immer einer pro Boot, bis zu 12 Stunden pro Tag auf dem Wasser. Die Schiffe des Konzerns können sie aus rechtlichen Gründen nicht attackieren. Über Monate entstandt so eine Patt-Situation auf See. Keiner rührte sich. Erst im Taifun mussten die Kayaks kapitulieren, die schwere Schiffe aus Stahl hatten im Sturm die Oberhand.
Insgesamt gibt es ungefähr 20 der Kayak-Aktivisten auf Iwaishima, alle sind zwischen 19 und 33 Jahren alt. Sie leben mietfrei in einem Haus auf der Insel, deren Besitzerin ohne Erben verstorben ist. Es gibt viele solcher leeren Häuser mit toten Besitzern auf Iwaishima.
Da zur Zeit ein Baustopp herschte, waren die Aktivisten wieder daheim. Alle bis auf zwei.

Und es waren auch nur diese beiden, die ich ein Jahr später wieder treffen sollte. Masajuki, links, ist inzwischen mit einer anderen Kayak-Aktivistin verheiratet und hat die Insel verlassen. Damals, als ich ihn traf, wollte er noch Fotojournalist werden. Er dokumentierte den Protest vor der Insel und seine Bilder zeigen das alltägliche Leben auf Iwaishima. Wie er in den Wäldern mit Freunden Schweine jagt. Wie er die alte Einschienenbahn, die früher zum Holztransport genutzt wurde, über den Hügel nimmt. Oder wie es zu Silvester im Schnee eine Sitzung in der alten Schule gibt. Seine Fotos wurden im kritischen Magazin Days Japan veröffentlicht. Stolz zeigte er mir die Ausgabe von vor einem Jahr. Days Japan ist die einzige Redaktion, die über Iwaishima in Japan regelmäßig berichtet, erzählte er mir fröhlich.
Zum Abschied gab er mir eine DVD mit seinen Bildern mit. Er rannte dafür extra noch zum Hafen, und erreichte mich kurz bevor ich in die Fähre stieg. Ich solle die Bilder in Deutschland zeigen, sagte er mir. Das würde ihm schon reichen.

Er rechts war, als ich ihn das erste Mal traf, erst ein paar Monate auf der Insel. Er hatte sein Kunststudium in Kyoto abgebrochen und alle seine Freunde verloren, weil er sich hier offen gegen einen Konzern stellt. Keiner seiner Schulfreunde will noch mit ihm zu tun haben, sagt er mir über einer Schüssel Reis, garniert nur mit einer einzigen eingelegten Pflaume. „Das Essen armer Leute“, scherzte er in Englisch. Er hat keine Arbeit auf der Insel, er ist nur Aktivist. Ab und an macht er kleine Jobs, wie Fischen oder Heimwerkertätigkeiten für die Senioren der Insel, und verdient so etwas Taschengeld. Ansonsten ist das jetzt sein Leben. Reis, Pflaume, Protest.

Als ich mit ihm sprach, zweifelte er noch an seiner Entscheidung. Mit dem Abbruch der Uni hat er sich selbst ins berufliche Aus gesetzt und das wurde ihm nun klar.
Er hat allerdings eine enorme Entwicklung gemacht. Ein Jahr später war er der letzte der Aktivisten, der noch auf der Insel wohnte. Seine Mutter folgte seinen leidenschaftlichen Erzählungen von Iwaishima und inzwischen hat sie dort ein eigenes Haus. Er selbst wird nur noch „Kin-Chan“ gerufen, grob übersetzt „Goldjunge“, weil er immerzu lächelt. Als ich ihn das erste Mal traf, hatte er kaum was zu Lachen. Aber jetzt ist er glücklich auf der Insel. In seinem Kunststudium sah er damals keinen Sinn. Ein Vortrag von einem der Kayak-Aktivisten, inspirierte ihn, nach Iwaishima zu kommen. Heute ist er von der vielen Arbeit auf der Insel ganz gebräunt, er hat auch ein paar Pfunde verloren, ist schmaler geworden. Das kann auch an den zwei Hungerstreiks liegen, die er nach Fukushima vor dem Gebäude vom Energie-Konzern Chugoku Denryoku jeweils für zehn Tage absolviert hatte.

Ich gab beiden zum Abschied eine Packung Kit Kat mit. Damit der Reis mit Pflaume besser schmeckt.

Den Trick mit dem Kit Kat habe ich mir übrigens von Ralph Morse abgeschaut, einem Fotografen fürs LIFE-Magazine. Als Albert Einstein starb, war der einzige, der von seinem Büro und der Beerdigung Bilder hatte. Wie hatte er das geschafft? Scotch. Als der Anruf von der Redaktion kam, schnappte er sich eine Flasche und fuhr nach Princeton. Mit jedem den er traf, Verwandten, Direktoren, Sicherheitsleuten, trank er nun einen Schluck, bis sie ihm vertrauten. Solche kleine Aufmerksamkeiten machen beliebt. Und bei mir war es eben Kit Kat.

Auf meiner Liste stand jetzt nur noch ein Interview. Doch die Überlebende der Atombombe machte ein Schläfchen, wir sollten später kommen. Wir gingen die Insel hinauf.

Das höchste Gebäude auf Iwaishima ist die Schule. Es gibt nur noch drei schulpflichtige Kinder auf der Insel und die werden größtenteils auf dem Festland unterrichtet. Die Schule ist geschlossen. Sie dient heute nur noch als Gemeinderaum für Veranstaltungen.

Vom Schulhof hat man einen wunderbaren Blick auf die blaue Seto-See und die vielen kleinen Inseln.
In Berlin gab es in meiner Plattenbau-Grundschule in der Linienstraße nur einen Blick auf Berliner Altbau. Iwaishima gewinnt.

Hier oben sahen wir nun auch endlich, worum es ging. Die Baufläche vom AKW. Direkt vor der Nase.


An der gerodeten Stelle bitte zwei Kühltürme vorstellen

Mir wurde klar, warum das AKW hier gebaut wird. Die einzigen, die es sehen können, sind die Bewohner dieser Insel. Und die Bewohner dieser Insel sind alt und sie sterben aus. Da war eigentlich kein Widerstand zu erwarten.
Wenn hier das AKW so kaputt geht, wie in Fukushima, wäre die gesamte Seto-See verseucht. Hier leben alle vom Fischfang, auch Iwaishima. Deswegen hat der Konzern Chugoku Denryoku alle Fischer in der Region mit „Garantie-Geld“ ruhig gestellt. Alle nahmen das Geld gerne. Alle, bis auf Iwaishima.

Auf Iwaishima gibt es kein Geschäft, das Fisch verkauft. Wer Fisch möchte, braucht nur die Angel in das Wasser halten. Es beisst meist gleich etwas an.

Das Interview mit der Überlebende der Atombombe war bedrückend. Ich musste kaum fragen, sie hat ihre Geschichte schon oft erzählt. Ich konnte sie in ihrem Redefluss auch gar nicht unterbrechen. Schließlich sagt man einer Überlebenden von Hiroshima nicht, dass sie mal kurz still sein soll, weil man mit den Notizen nicht hinterher kommt.
Ihre Familie war gerade zu Gast, es war ja Golden Week. Ihr Enkel guckte mich mit großen Augen an, als sie von den toten Kindern, den ewigen Flammen und dem schwarzen Blut in den Straßen von Hiroshima erzählte. Nachdem ich das Interview in Tokyo dann abgetippt hatte, habe ich eine Woche lang nur schlecht schlafen können.
Inzwischen hat sie auch Krebs. Eine Folge der Bombe, wie sie sagt. Doch eine Behandlung will sie nicht. Sie will nur noch „warten“.

Kurz nach dem Interview ging auch die letzte Fähre Richtung Festland. Die halbe Insel war versammelt, vorrangig weil mit der Fähre viele Verwandte zur Insel kamen. Uns verabschiedeten die Aktivisten, Yamatos Vater und den, den ich beim Essen dafür hielt. Yamato selbst schlief.

Die ganze Insel im Panorama, links ist die Schule

Mein Notizbuch war ganz warm. Die Sonne ging über der See unter, aber unter Deck, nur durch die beschmutzte Glasscheibe, war es nicht ansatzweise so schön, wie der Tag begann. Wir waren müde. Im Büro auf dem Festland fielen wir in den Futon. Morgen ging es wieder nach Hiroshima, und von dort am Abend nach Tokyo. Wir packten den Schlüssel in den Briefkasten und gingen Richtung Zug.

In Hiroshima war die Hölle los. Im positiven Sinne. Es war Feiertag und in der Stadt fand das jährliche Blumenfestival statt. Über eine Million Besucher wurden erwartet. So erklärte es uns im „Rest House“ Tomoko, die ganz neidisch auf unser Abenteuer war. Viel Zeit hatte sie aber nicht für uns, essen mussten wir alleine.
Wir besuchten vorher noch das Atombomben-Museum. Gut, dass wir erst danach aßen.

Ich sollte noch ein paar Fotos in Hiroshima machen, also machten wir die Touri-Tour und fraßen uns durch die Buden des Blumenfestivals.

Zeit für den Schlossgarten blieb auch noch. Endlich mal runterkommen, keine Interviews machen.

Am Abend gab es dann ein Konzert am Fluss.

Ein Mädel ging besonders zu der Musik ab.

Ihr Name war Natsu, später kam sie auch zu uns um eine Kippe von meiner Begleiterin zu schnorren. Wir gaben ihr auch die Reste von unserem Okonomiyaki mit, wir waren einfach schon zu voll. Ihre Augen wurden ganz groß und sie konnte ihr Glück kaum fassen. In aufgeregtem Englisch erzählte sie uns von sich, ihren Träumen und Hiroshima. Und dann fing sie wieder an zu tanzen.

Hiroshima war an dem Tag so unglaublich lebendig. Seit meiner Jugend habe ich viel zu der Stadt gelesen und gesehen. Die Explosion der Atombombe beschäftigt mich schon lange. Aber, und das fiel mir dort erst auf, ich hatte in meinem Kopf nur das Bild von Hiroshima 1945. Seitdem sind mehr als siebzig Jahre vergangen. Die Stadt hat sich entwickelt. Und trotzdem scheint rund um das Explosionszentrum die Zeit still zu stehen.
Als die Bombe explodiert, blieben aufgrund des elektromagnetischen Schocks alle Uhren stehen. In Hiroshima heute sind mir erstaunliche viele Uhren im Stadtbild, an Straßenkreuzungen und an Plätzen aufgefallen. Alle ticken. Als ob sie kollektiv beweisen wollen, dass die Zeit in Hiroshima weiter geht – und sie nicht bei 1945 stehen geblieben ist.

Um 21 Uhr kam dann unser Bus Richtung Tokyo. Ich schlief schlecht für zwei Stunden, bevor wir wieder in Shinjuku ankamen, exakt dort wo wir letzte Woche gestartet sind. Nachdem wir fünf Tage ständig zusammen war, sagten wir kurz und unaufgeregt Tschüss. Ich ging nachhause, duschte, und drei Stunden später stand ich schon wieder in meinem Restaurant und arbeitete. Meinen Kollegen erzählte ich von der Reise. Denen imponierte der Arbeitsaufwand und dass ich heute schon wieder hier stehe. Doch ich war einfach nur im Arsch. Mission erfüllt.

Epilog
Ich erzählte einem Verleger von meiner Reise und was ich dort erlebte. Der meinte „Lass uns da mal n Buch draus machen.“ Ich dachte, er macht nur einen Scherz. Also ignorierte ich es und konzentrierte mich auf meine Arbeit in Tokyo. Hiroshima kann warten, bis ich wieder in Deutschland bin.

Zwei Wochen vor meinem Abflug kommt eine Email. Wo bleibt das Manuskript? In drei Wochen ist Druck.
Inzwischen war ich zu Freunden auf die Couch gezogen und hatte schon die nächste Recherche in Nagasaki geplant. Es blieb keine Zeit, jetzt noch ein Buch zu schreiben.
Ich ordnete meine Notizen, schickte ein großes Paket mit Fotos an den Verleger und bekam zwei Wochen später ein Manuskript. Das Buch sollte zum Jahrestag der Atombombe erscheinen, es war also Eile geboten. Eine Nacht lang las ich über das Manuskript drüber, schickte es korrigiert nach Deutschland und damit war es für mich beendet.

In Berlin war das Buch dann schon fertig als ich aus dem Flieger stiegt. Bis heute habe ich ein bisschen ein gespaltenes Verhältnis damit. Zum einen ist es ein Buch und das ist groß. Und die Geschichte ist mir sehr wichtig. Allerdings stammt nicht jede Zeile von mir. Mit Buch 2 und 3 korrigierte ich das dann.

Lektion
Das Buch war August 2010 draußen. Ich war bis dahin immer noch der einzige westliche Journalist, der diese Geschichte recherchierte. Ich hatte also Zeit. Mein Ziel war der Abdruck in einem großen Magazin. Dafür wollte ich mir so viel Zeit wie nötig nehmen, und an dem Text und den Bildern so lange feilen, bis sie perfekt waren (und bis man nicht mehr merkte, dass ich keine Ausbildung als Journalist hatte). Ich hatte ja Zeit, ich konnte ja warten. Dann kam März 2011 und Fukushima. Zwei Monate später war jeder mal auf der Insel. Atomkraftwerk? Protest? Ja hier, Iwaishima. Meine Exklusivität war weg, aktuell war meine Geschichte auch nicht mehr.
Ich war mir so sicher, ich hatte so viel gewonnen, und aufgrund von, ja, jugendlichen Leichtsinn und Naivität habe ich es verspielt. Zu hoch gepokert.

Ich war bisher noch einmal auf der Insel. Man erkannte mich, aber ich bekam nicht die gleiche Aufmerksamkeit. Ich war jetzt nicht mehr „der“ westliche Journalist, sondern nur einer von vielen. Beim letzten Besuch war auch wieder meine Begleitung vom ersten Mal dabei. Sie hat für sich auch eine eigene Lektion daraus gezogen.

Während sie beim ersten Mal noch leidenschaftlich dabei war, eine Abwechslung von ihrem Job suchte und mit der Arbeit das Gefühl hatte, wirklich etwas verändern zu können, wandelte sich diese Stimmung. Wie Japaner halt so sind, reden sie halt nicht über Gefühle. Über Andeutungen und zehnmal nachfragen bekam ich dann raus, dass sie beim zweiten Mal eher ungern dabei war. Sie verließ dann die Insel auch frühzeitig. Viele Wochen später schrieb sie mir, dass ich nur mit ihr befreundet wäre, weil sie Sachen für mich kostenlos übersetzt – was Unsinn ist und mich auch verletzte. Aber nunja, der Schaden war entstanden. Nun wohnt sie zwar in Berlin, seit einem Jahr sprach sie allerdings nicht mehr mit mir. Ob es daran lag, dass ich zu viel Druck machte? Ich weiß es nicht. Aber es war meine größte Geschichte, und da gab es nunmal Druck.

Diese Geschichte definierte mich. Oder anders gesagt: Sie zeigte mir, wie Journalismus gehen kann. Und ich war begeistert davon. Danach wollte ich nur noch solche Sachen machen. Eine Geschichte finden, hinfahren, entdecken, Abenteuer. Zurück in Deutschland ging das nicht so einfach. Meine Naivität, oder das freche Selbstbewusstsein, einfach ins Blaue zu fahren, und dran zu glauben, dass alles sich schon fügen wird, habe ich inzwischen etwas verloren. Gerade weil ich mehr Erfahrung habe und nun auch eine Ausbildung, bei der einem gesagt wird, „wie es richtig geht“….

Und ich vermisse es.

Ich denke oft zurück an Hiroshima. An die fünf Tage mit sechs Interviews. An meine verlorene Stimme. An den Sonnenaufgang auf der Seto-See. An die Überlebende der Bombe. An Natsu und ihr Okonomiyaki. Und an das journalistische Abenteuer.

Und vielleicht geht das Abenteuer jetzt weiter. In den letzten Tagen kam die Bestätigung: Ich habe ein lukratives Stipendium erhalten. Ab Sommer/Herbst werde ich in Hiroshima studieren. Ich plane, auch wieder zur Insel zu fahren und dort mehrere Woche zu leben. Einfach, um das alte, ursprüngliche Leben dort zu dokumentieren.

Die Insel hielt mich in Japan. Und nun lockt sie mich wieder. Die Insel – und das Abenteuer.

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Meine Bücher

Buch I – „No more Hiroshima“:
Meine wichtigste Geschichte (1. Teil / 2. Teil)
Buch II – Fukushima? War da mal was?:
Mein Fukushima
Buch III – Japan 151:
Mein Japan

Shop: Bücher, auf denen mein Name steht

Meine wichtigste Geschichte, 1. Teil

Es ist die Geschichte von Hiroshima und seinem Atomkraftwerk. Es ist die Geschichte vom Kampf einer kleinen Insel gegen einen großen Konzern.Und es ist die Geschichte von einem jungen, ehrgeizigen Journalisten.

Es ist meine Geschichte.

Da in den nächsten Wochen mein mittlerweile drittes Buch zu Japan erscheinen wird, will ich die Gelegenheit mal nutzen, um zu jedem einzelnen was zu erzählen.

Prolog
Der 30. Dezember 2009 in Tokyo. Mein Geburtstag. Ich war am Ende.
Seit einem halben Jahr war ich nun schon in Japan. Mein Erspartes war lange aufgebraucht, ich ernährte mich seit Wochen nur von Instant-Ramen für 100 Yen die Packung. Ich hatte bisher keinen Job finden können und der letzte Auftrag als Fotograf war über einen Monat her. Ich war abgebrannt. Zudem erklärte mir mein Mitbewohner vor Weihnachten, dass seine neue Freundin hier gerne einziehen möchte. Schön, sagte ich, endlich mal ein weiblicher Touch. Sie hätte gern dein Zimmer, ergänzte mein Mitbewohner. Ich sollte zum 1. Februar verschwunden sein.

Ich war pleite und hatte keine Ahnung, wohin ich ziehen sollte. Abgesehen davon, dass ich mir eh keine Miete oder Umzug hätte leisten können. Es war einen Tag vor Silvester 2009. Happy Birthday.

Einen Ausweg gab es: Zusammen mit meinem Flug nach Japan buchte ich auch einen Rückflug, auf den Tag genau sechs Monate später. Am 11.1.2010. In weniger als zwei Wochen.
Nach Weihnachten gab ich mir selbst eine Woche zu entscheiden, ob ich den Flug nehme und flüchte, oder ob ich es weiter wagen sollte mit dem Abenteuer Japan.
Es waren bereits sechs Tage vergangen und ich hatte immer noch keine Antwort. Von dieser Zeit zeugt noch ein Blogeintrag.

Da ich mich auf den sechs Quadratmeter meines Zimmers im 3. Stock in Shinjuku gedanklich eh nur im Kreis drehte, ging ich raus. Freunde treffen. Schließlich war es mein Geburtstag.

20 Uhr, UNI-Bar
Wir waren in meiner Lieblingsbar verabredet. Ein ganz kleines, ulkiges Lokal in Sasazuka, einer verschlafenen Nachbarschaft, in der Freunde von mir wohnten. Nichts, wo sich sonst ein Ausländer hin verirrt. Und für mehr als 10 Leute wäre eh kein Platz.
Bis heute besuche ich die Bar immer wenn ich in Tokyo bin, der Barkeeper erkennt mich jedes Mal.

Doch meine Lieblingsbar hatte an diesem Abend zu. An meinem Geburtstag. Keine Ahnung wieso.
Wir suchten eine Alternative und gingen die Straße ab. Mir war früher schon die kleine Jazzbar an der Ecke aufgefallen, aus der stets laut Musik spielte. Die Tür war diesen Abend wie immer offen und man hörte schon auf der Straße die Musiker einspielen.

Die Bar war sogar noch kleiner, meine Freunde und ich waren die einzigen Gäste. Die Musiker waren zusammen mit dem Barkeeper in der gleichen Anzahl wie wir. Mehr hätten auch nicht reingepasst, die Bar war ohne Küche so groß wie das Zimmer, aus dem ich bald ausziehen musste.

Es gab Geschenke, Alkohol und kalte Nudeln. Dann fing der erste an zu spielen. Mit seiner Gitarre setzte er sich vor eine Leinwand und im Hintergrund war das Meer zu sehen. Vereinzelt tauchten zu seinem Gesang noch Inseln auf. Mein Japanisch war zu diesem Zeitpunkt sehr schlecht. Das war ja auch der Grund, warum ich keinen Job finden konnte. Von seinem Lied verstand ich nur „Hiroshima“ und „Kampf“. Ich fragte eine japanische Freundin, worum es denn geht.
„Oh“, sagt sie, „er singt vom Bau des Atomkraftwerks vor Hiroshima und den Protest dagegen.“

Wie bitte?

Ich hatte noch nie davon gehört, dass in der Nähe von Hiroshima ein Atomkraftwerk gebaut wird. Wie kann man eigentlich nur auf so eine Idee kommen? Und dann gibt es Proteste? In Japan wird doch nicht demonstriert, dachte ich.
Wie gesagt, das war zwei Tage vor 2010. Fukushima war noch weit entfernt.

Ich war wie angezündet. Da musste ich hin. Ich muss darüber berichten. Ich muss Leute interviewen, ich muss Fotos machen, ich muss darüber schreiben.

An einen Rückflug war jetzt nicht mehr zu denken. Ich nahm dieses Erlebnis als Zeichen. Es gab noch einen Grund für mich im Land zu bleiben. Ich konnte jetzt nicht einfach gehen!

Beginn der Recherche
Die Entscheidung zu bleiben war die beste, die ich je getroffen hatte. Keine zwei Wochen später bekam ich den Auftrag für eine zehnteilige Serie in einem deutschen Magazin. Auch bekam ich endlich einen Nebenjob mit regelmäßigen Einkommen. Ich fand in der gleichen Woche auch meine neue Wohnung in Nakano, in der ich die folgenden sechs Monate wohnen sollte. Nie lebte ich glücklicher.

Die Reise nach Hiroshima sollte zwar noch etwas warten, aber die Geschichte schwebte in den folgenden Wochen stets vor meinen Augen. Es war schließlich der Grund, warum ich überhaupt noch hier war.
Meine ersten Recherchen ergaben dann genau das, was ich bereits vermutet hatte. In der westlichen Presse, vor allem in den deutschen Medien gab es noch nie etwas dazu. In der Nähe von Hiroshima, auf einer Halbinsel sollte ein Atomkraftwerk gebaut werden. Alle waren dafür. Alle bis auf eine kleine Insel, direkt vor der Baustelle. Ihr ist es zu verdanken, dass bis heute nicht einmal das Fundament gebaut werden konnte.
Diese Geschichte hatte alles. Der Kampf David gegen Goliath, Proteste im protest-freien Japan und moderner Großkonzern gegen traditionelles Leben auf der Insel. Mir wurde also eine exklusive Geschichte auf dem Silbertablett überreicht. Als Geburtstagsgeschenk. Egal wie ich die Geschichte machen würde, es könnte gar nicht schief gehen. Das gab mir Selbstvertrauen.

Mehr noch beantwortete Hiroshima aber eine Frage für mich. Ich war zu dem Zeitpunkt 22. Sicher hatte ich immer schon Journalismus-Kram gemacht, aber so wirklich sicher, ob es das richtige für mich war, war ich nie. Wie man mit Anfang 20 eben unsicher ist. Und ob es jetzt Schreiben oder Fotografie werden sollte, das wusste ich nicht. Beides mochte ich, aber stets wurde mir gesagt, ich solle mich spezialisieren und eines aufgeben.
Als ich von der Geschichte in Hiroshima hörte, war mein erster Impuls: Da musst du hin und drüber berichten.
Das war meine Antwort.

Nachtbus für 11.500 Yen
Aber alleine konnte ich das natürlich nicht alles schaffen. Schon gar nicht mit meinem Japanisch. Ich brauchte eine Übersetzerin. Eine gute japanische Freundin, die schon bei meinem Geburtstag mir die Liedzeilen des Sängers übersetzte, war begeistert von der Geschichte. Es war eine lang ersehnte Abwechslung zu ihrem Bürojob. Unentgeltlich half sie mir bei der Recherche und telefonierte uns Kontakte zusammen. Sie bezahlte auch ihre eigenen Reisekosten, sie wollte einfach Teil des Ganzen sein.
Es war nicht die erste Geschichte, bei der sie mir half. Der Haken war allerdings, dass wir nur nach Hiroshima konnten, wenn sie keine Arbeit hatte. Wir warteten also bis zur Golden Week, eine Woche mit Feiertagen, an denen ganz Japan frei hat und verreist.

An dem Umstand, dass ich pleite war, hatte sich inzwischen kaum was geändert. Ich pumpte mir Geld von meinen Eltern („Ich muss das jetzt machen!“), was zusammen knapp für eine Übernachtung, Essen und den Nachtbus nach Hiroshima reichte. Eingeplant waren fünf Tage und erstmal ein Interview. Den Rest wollte ich vor Ort improvisieren

Ich kann in Bussen nicht schlafen. Auch wenn sich der Fahrer viel Mühe gab und kostenlos aufblasbare Nackenkissen und Decken verteilte.
Der Nachtbus von Tokyo nach Hiroshima und zurück kostet umgerechnet 110 Euro, braucht elf Stunden und macht alle drei Stunden Rast. Bei der letzten Rast ging die Sonne auf.

In Hiroshima angekommen fing ich an zu husten. Elf Stunden unter der Klimaanlage waren nicht gut. Meine Stimme war schon halb weg und mir grauste schon vor den geplanten Interviews.

Nach einem Frühstück im Conbini gingen wir zum ersten Termin des Tages. Dazu mussten wir durch den Peace Park, dem Zentrum und Gedenkstätte der Explosion der Atombombe 1945.

Der „Atombomben-Dom“ präsentierte sich bedrohlich als Mahnmal vorm bedeckten Himmel.

Wir waren verabredet im „Rest House“, das war eines der wenigen Betonbauten, die nach der Bombe noch standen. Dort war ein Touribüro untergebracht, sowie die Hiroshima-Filmkommission und Öffentlichkeitsarbeit. Ich traf dort Tomoko, mit der ich schon im August 2009 zu tun hatte. Ich hatte damals überlegt, dem Jahrestag der Bombenexplosion beizuwohnen, es klappte dann aber zeitlich nicht. Doch mit Tomoko hatte ich ganz guten Kontakt gehabt und wollte einfach mal Hallo sagen.

Ihr Englisch war simpel, aber sehr gut. Sie hatte es sich selbst beigebracht, allein mit den Englisch-Stunden im Radio von NHK. Ihr Mann wurde irgendwann mal nach Hiroshima versetzt und sie zog hinterher. Seitdem betreut sie hier ausländische Medien und die Überlebenden der Atombombe. Beide werden jedes Jahr weniger.
Erst im Hinausgehen sprach ich das Atomkraftwerk an. Ich wusste, dass der Bürgermeister von Hiroshima für den Bau des Kraftwerks war. Die Stadt wurde mit dem perversen Versprechen gewonnen, dass der erste Strom, der im AKW erzeugt wird, nach Hiroshima gehen und den Atombomben-Dom erleuchten soll. In Blutrot.
Tomoko, als Angestellte im öffentlichen Dienst, war also sicher angehalten, auch dafür zu sein. Doch überraschend ehrlich und direkt erzählte sie mir, wie dämlich sie Kernkraft im Allgemeinen, und das geplante AKW vor Hiroshima im Besonderen, hält. Ich beobachtete ihre Kollegen. Keiner regte sich. Wahrscheinlich verstanden sie das Englisch einfach nicht und sie fühlte sich daher frei zu sprechen. Zusammen verließen wir das Büro.

Wir sollten Helme aufsetzen, sie würde uns gerne etwas zeigen. Zusammen gingen wir die Treppe runter. Sie ging voran.

Der Keller des „Rest House“ sieht heute fast noch so aus, wie nach der Explosion 1945. Schon damals war das Haus Sitz für ein Amt. Tomoko erzählt mir die Legende von einem Beamten, der in den Keller geschickt wurde, um Akten zu holen. Er war noch im Keller, als die Bombe abgeworfen wurde und knapp 1.000 Meter über ihm explodierte. Doch ihm passierte kaum was. Oben zerbarsten die Fenster, die Scherben schnitten Gesichter und Arme auf. Doch der Beamte im Keller war sicher, ihm flogen nur die Aktenordner um die Ohren. Aber er überlebte. So viel Glück hatten die knapp 70.000 Menschen, die sofort verdampften, nicht.

Wie viel an der Legende wirklich dran ist, kann ich nicht sagen. Aber sie ist unterhaltsam. Denkt dran, wenn euch euer Chef das nächste Mal in den Keller schickt.

Mit Tomoko gingen wir dann noch etwas durch den Peace Park. Wir sprachen über meine geplante Recherche und die Insel. Sie hatte natürlich schon davon gehört und fand es großartig, dass endlich mal einer aus dem Ausland kommt und darüber berichtet. Sie konnte mir allerdings nicht mit Kontakten weiterhelfen.


Coverfoto

Nach einer Portion Okonomiyaki ging es zum ersten Interview. Wir sollten unseren Mann in der Zentrale von Chugoku Denryoku treffen, dem einzigen Energiekonzern der Region – und der Konzern, der das AKW seit 1988 bauen möchte. Ich war skeptisch. Der Mann sollte die Leitung im Widerstand gegen das Kraftwerk in Hiroshima haben und wir sollten ihn im Konzern treffen? Er sollte auch Aktien an der Firma besitzen?

Wir warteten in der Lobby. Ein älterer Sicherheitsmann mit tiefen Falten im Lächeln kam auf uns zu. Er wunderte sich sicher, was dieser hustende, langhaarige Blonde mit seiner blauen Mütze und einer Japanerin hier macht. Vorsichtig erklärten wir uns. Auch er freute sich, dass wir hier sind und endlich über das AKW berichten. Er selbst lebte sein Leben lang in Hiroshima, er war fünf Jahre alt als die Bombe fiel. Seine Schwester kam mit Gendefekten und Verwachsungen auf die Welt, eine Folge der radioaktiven Strahlung. Er will auch kein AKW vor Hiroshima sehen. Warum arbeitet er dann hier, frage ich ihn. Es ist sein Job und es ist seine Firma, sagt er. Er unterstützt die Entscheidungen seiner Firma nicht, aber es ist trotzdem seine Firma. Und in Hiroshima, ja in ganz Südwest-Japan hat man nur zwei Optionen: Entweder man bekommt seinen Strom von Chugoku Denryoku, oder man bekommt keinen Strom. So simpel ist das. Hier gibt es nur einen Stromkonzern.

Jeder kämpft mit anderen Mitteln
Ziemlich erbost kam dann unser Kontaktmann aus dem Aufzug. Der 61 jährige Kihara fluchte leise und höflich auf Japanisch. Uns erkannte er gleich. Der Wachmann begrüßte ihn gleich freundlich. Beide standen auf der selben Seite, man kennt sich. Da meine Stimme inzwischen fast weg war, gab mir der Wachmann noch ein Bonbon zum Abschied. Zusammen mit Kihara gingen wir in das Restaurant eines teuren Hotels, direkt gegenüber. Er orderte einen Kaffee, den er zum Glück auch selbst bezahlte. Ich traute mir nicht mal ein Wasser zu bestellen. Als mein Husten seine Antworten störte, bot er mir sein eigenes Glas an. Inzwischen bekam ich kaum noch Sätze raus, ich musste die Fragen aufschreiben und meiner Freundin zum Übersetzen vorlegen. Was er erzählte schrieb ich in mein schwarzes Notizbuch.

Auch er stammte aus Hiroshima und ist von der Atombombe betroffen. Das lernte ich schnell. In Hiroshima hat jeder direkt oder indirekt mit der Atombombe zu tun. Es betrifft jeden. Die Bombe schwebt heute noch über der Stadt, keiner kommt an ihr vorbei.
Kiharas ältere Schwester kam ohne Wirbelsäule auf die Welt, er selbst wurde ein paar Jahre nach 1945 geboren. Gesund. Er kämpft seit Jahrzehnten gegen Atomkraft. Warum hält er dann Aktien am Konzern frage ich ihn. Ein Baustopp würde ja Verluste für die Firma bewirken und dementsprechend auch Verluste für ihn. Er hält inne und erklärt es mir.
Aktien sind Teile der Firma. Wer Aktien hält, kontrolliert die Firma. Er kauft Anteile und versucht andere Aktieninhaber des Konzerns zu überzeugen, so wie er gegen den Bau zu stimmen und so den Konzern zu lenken. Das ist sein Kampf, sagt er. Es ist genau so, wie vor dem Konzern zu stehen und zu demonstrieren, was er einmal pro Jahr auch macht. Aber, so vermutet er, seine Methode ist effektiver. „Wenn ich nur emotional agiere“, sagt er, „nimmt mich keiner ernst.“

Er war mein erster und bis dahin auch mein einziger Kontakt. Das sagte ich ihm. Wenn die Geschichte weiter gehen sollte, brauchte ich mehr Kontakte. Ich machte Druck. Er gab uns fünf Nummern, die wir heute noch anrufen sollten.
Zusammen liefen wir noch ein Stück bis zur Bahn. Am Ende der Straße zeigte er auf ein Gebäude. Dort sitzt die Redaktion der Chugoku Shimbun, die größte Zeitung in der Region. Er hasste diese Zeitung, auch wenn er niemals ein so starkes Wort benutzen würde. Die würden nie über das AKW oder den Konzern berichten, sagt er. Ist ja auch logisch. Auch Redaktionsräume brauchen Strom.

Telefonlawine
Der erste Tag in Hiroshima war vorbei und wir hatten nichts. Wir wussten nicht, wie es weiter geht oder wo wir die nächsten Tage übernachten sollten. Natürlich würden wir mal zu der Insel rausfahren. Aber wo genau sie lag und wie wir fahren müssten, das konnte uns selbst Tomoko nicht sagen. Wir hatten allerdings fünf Nummer.

Auf dem Dach des billigen Hostels, in dem wir übernachteten, telefonierten wir sie alle mal durch. Ich kann mich noch genau an den grünen Rasen aus Kunststoff erinnern, der unter den Gartenstühlen aus Plastik auf dem Dach lag. Daneben standen drei Waschmaschinen und zwei Trockner. 100 Yen pro Durchgang. Es gab hier wie so oft in Japan keine Aussicht. Alle Häuser um das Hostel waren höher. Wir hofften, dass die Nummern unsere Aussicht bessern würden.

Meine Begleiterin war schon bei der vierten Nummer, ohne dass die drei zuvor Erfolg verhießen. Sie war unsicher und aufgeregt, ja geradezu panisch, dass alles schief gehen wird. Diese Möglichkeit gab es durchaus. Doch ich ruhte in mir. Ich hatte nix zu verlieren, nur zu gewinnen. Zudem fand ich das alles so aufregend, dass ich kaum Zeit für Zweifel hatten.

Nummer Vier hob den Hörer ab. Ja klar hätte er morgen Zeit für ein Interview. Er wohnte in der Nähe der Insel, wir sollten mal vorbeikommen. Am besten nehmen wir den Zug in Hiroshima.

Wusst ichs doch.

Jetzt wurde ich frech. Ich wusste, dass wir kein Geld für eine weitere Übernachtung hatten. Ich ließ ihm ausrichten, dass wir kaum Mittel für die Recherche haben und wir irgendwo übernachten müssen, sonst platzt die Geschichte. Ich pokerte. In der Hoffnung, dass die Aussicht auf einen Bericht über den Konflikt ihn genug ködern würde. Heute würde ich das nicht mehr machen. Heute bin ich vorsichtiger. Damals jedoch stand ich mit dem Rücken zur Wand und machte meinen Kontakten den Druck, den ich persönlich verdrängte.
Mit Erfolg. Wir könnten im Büro seiner Firma schlafen, er würde uns mit dem Auto abholen.

Oft habe ich mich in den Monaten danach an das Dach in Hiroshima erinnert. An das aufregende Gefühl, an was ganz Großen dran zu sein. An dem Rausch, dass mir als Journalisten Türen und Betten offen stehen, wenn ich nur energisch genug bin.
Es half natürlich, dass nicht ich die Forderungen stellte, sondern meine Begleiterin, auf Japanisch. Ich musste nur delegieren und nicht persönlich formulieren. (Sie fand das übrigens gar nicht gut, dass ich so unhöflich und direkt nach einer Übernachtung fragte.)

Unter das Interview mit Kihara notierte ich mir in dieser Nacht in mein Notizbuch: Ich hab Bock Fotos zu machen! Bislang machte ich kaum welche, ich war mehr mit Recherche, Interviews und Gesprächen beschäftigt. Einmannjournalismus.

Als ich am nächsten Morgen im Achtbett-Zimmer des Hostels aufwachte, schmerzte mein Hals zwar noch, aber meine Stimme war wieder fast da. Unser Termin war um 18 Uhr und zwei Stunden von Hiroshima entfernt. Es war also noch genug Zeit. Meine Begleiterin drängte, dass wir uns doch die Schreine von Miyajima anschauen könnten. Sie liegen ja auf dem Weg, an der Küste. Ich wollte zwar lieber in Hiroshima fotografieren, und die Aussicht auf einen kostenpflichtigen Umweg gefiel mir nicht. Aber da ich sie letzte Nacht ziemlich unter Stress setzte, gönnte ich ihr den Trip mal lieber.

Nach dem Schrein kamen wir am Abend dann hungrig irgendwo im Hinterland der Yamaguchi-Präfektur an. Unseren Kontakt sollten wir im Gemeindehaus treffen.

Knapp eine Stunde ließ er uns warten. Er kam gerade aus einer Konferenz mit der Lokalregierung, es ging mal wieder um das Kernkraftwerk.
Sein Name war Yamato, Mitte 30 und Farmer auf der Insel Iwaishima. Er gehört zu den wenigen Jungen auf der Insel. Drei Viertel der Bewohner sind über 60 Jahre alt, erzählte er uns in der großen, leeren Halle des Gemeindehauses. Er gab uns Pamphlete des Protests, die er gedruckt hatte. Ansonsten war er wortkarg. Sein Händedruck war kräftig, seine Haut von der täglichen Arbeit unter der Sonne ungewöhnlich dunkel für einen Japaner. Bei jeder Frage verwies er nur auf das Pamphlet.

Dann gab es einen kurzen Vorfall. Er erzählte eine Sache, ich weiß heute nicht mehr was es war, und meine Begleitung wusste es damals auch nicht. Ich wurde frustriert. Die Sache schien mir wichtig für die Geschichte zu sein. Ich machte ihr Druck, dass sie es doch irgendwie erklären sollte, was das heisst. Doch sie konnte nicht. Da klingelte das Handy. Gleich würden wir mit dem Auto abgeholt werden. Yamato ging schon mal raus. Ich merkte, wie meine Übersetzerin niedergeschlagen war. Jetzt erst merkte ich, dass ich zu weit ging. Ich entschuldigte mich. Zu verbissen verfolgte ich die Geschichte, ungeachtet der Menschen um mich herum. Ich wollte ab jetzt einen Gang zurück schalten.

Das Insel-Trio
Im chinesischen Restaurant waren wir dann zu fünft. Meine Begleitung, ich, Yamato, sein Vater und noch einen, den ich lange Zeit für Yamatos Vater hielt. Sie luden uns zum Essen ein. Gottseidank.
Yamatos Vater hatte eine Ausgabe der Chugoku Shimbun dabei. Sie berichtete überraschenderweise über den Energie-Konzern Chugoku Denryoku. Der hatte nämlich tags zuvor eine Presserklärung rausgegeben, in der sie knapp über tausend Fehler in ihren Kraftwerken offenlegten. Von der Zeitung Chugoku Shimbun gab es keine eigene Recherche, es wurde nur die Presserklärung abgedruckt. Der Tisch hatte schlechte Laune, bis ich die Zeitung nahm und in meine Tasche steckte. Über das AKW und sie war kein Wort in der Zeitung.

Morgen geht es auf die Insel, sagten sie, kauft vorher noch ein. Naiv fragte ich, ob es denn auf der Insel nicht, wie überall in Japan, auch einen Conbini gibt. Alle drei lachten. Das muss ja eine besondere Inseln sein, dachte ich mir.
Meine Begleitung war immer noch etwas verstimmt, also bezahlte ich unseren Proviant für morgen im Supermarkt. Ich kaufte noch eine Großpackung Kit Kat. Eigentlich gedacht als Nervennahrung für uns. Sie sollten aber noch sehr nützlich sein.

Die Drei brachten uns dann zum Büro ihrer Firma, wo wir übernachten sollten. Der Schlüssel war im Briefkasten, aber die Tür war eh auf. Wir waren alleine. Überall klebten Plakate, Poster und Banner, die vom Protest erzählten.

Es war das Büro ihrer Fischereigemeinschaft. Das musste sich auf dem Festland befinden, sagten sie. Sie selbst nahmen aber ihr Boot und setzten zur Insel über, auf die wir ihnen morgen mit der Fähre folgen sollten.

Wir schmierten uns Brote und machten uns pünktlich aus dem Haus, um genau 6.30 Uhr die Fähre am Ende der Straße zu erwischen.
Als wir zum Hafen gingen, konnten wir die Fähre schon sehen. Sie fuhr bereits los. Ohne uns.

Die Fähre zur Insel geht nur drei Mal pro Tag, die nächste kommt erst in sechs Stunden. Mit der Fähre schwimmt mir die Zeit für Interviews davon, dachte ich mir. Während ich noch am Überlegen war, wie es weiter geht, überraschte mich meine Begleitung. Mit einer Selbstsicherheit, die ich von ihr nicht kannte, ging sie zum Hafen und fragte die Leute auf ihren Booten, ob sie uns zur Insel fahren konnten. Mein Verhalten der letzten Tage hatte wohl auf sie abgefärbt. Wir waren so nah. Jetzt wollte auch sie es wissen.

Zwei Männer, die gerade ablegten, meldeten sich. Eigentlich wollten wir ja nicht zu dieser Insel fahren, aber springt mal an Bord.

Noch völlig perplex sprang ich, Kameratasche vorran, vom Steg. Meine Begleitung grinste mich nur stolz an.
Die beiden Bootsmänner waren Freunde und machten jedes Jahr zur Golden Week eine Bootstour. Dieses Jahr ist die Seto-Inlandsee dran. Sie führen auch einen Blog über ihre Reise, wo wir beide dann später drin auftauchten. Als Yacht-Hitchhiker.
Als Dank für unsere Mitnahme gab ich ihnen etwas aus dem Kit Kat-Beutel.

Die Insel fanden sie ohne Probleme auf der Karte.

Die Sonne ging gerade über der See auf.

In der Fähre hätten wir nur drinnen sitzen können, mit Blick aus der Fensterscheibe, die von den Wasserflecken der Gischt ganz benebelt gewesen wäre. Hier waren wir an Deck, an der frischen Luft. Hunderte von kleinen, unbewohnten Inseln der Seto-See und das fast glatte Meer begleiteten uns im Sonnenaufgang. Unmittelbar.

Die Fähre legte ohne uns ab, weil diese sonst nämlich nur Einheimische transportiert. Sind da alle bekannten Gesichter an Bord, wird eben schon früher abgelegt, ohne auf die Fährzeiten zu warten.

Hier an Bord erzählten wir natürlich auch vom Grund unserer Reise. Das war alles vor Fukushima, die über 50 Atomreaktoren in Japan wurden von der Allgemeinheit noch als notwendig angesehen. Unsere zwei Bootsmänner äußerten sich auch nicht direkt gegen Atomkraft. Aber, so fragten sie rhetorisch auf das Wasser hinaus, wenn Atomkraft so sicher ist, warum baut man dann kein Kraftwerk neben den Kaiserpalast?

Ein Jahr später, ich war wieder zu Besuch in Japan, sprach ich mit meiner Begleiterin erneut über diese Bootsfahrt. Sie erinnert sich noch sehr genau an den Geruch vom Salzwasser oder die warme Morgensonne auf der Haut. Woran ich mich erinnere? An den Stress und die Interviewfragen, die ich an diesem Tag alle noch stellen musste.

Viel konnte nun zwar nicht mehr schief gehen. Trotzdem war ich konzentriert. Ich hatte keine formale Ausbildung als Journalist, ich konnte mich nicht auf einem Handwerk ausruhen. Ich musste mich konzentrieren.

Die Fischerboote wurden mehr, je näher wir der Insel kamen.

Und da war sie dann. Iwaishima. Die Insel, die zu meinem Geburtstag besungen wurde, die mich in Japan hielt und die ich suchte. Ich bekam tatsächlich etwas Gänsehaut.

Wie es auf der Insel weitergeht, wen wir noch trafen und was ich aus meinem ersten Buch lernte, dann im nächsten Teil.

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Meine Bücher

Buch I – „No more Hiroshima“:
Meine wichtigste Geschichte (1. Teil / 2. Teil)
Buch II – Fukushima? War da mal was?:
Mein Fukushima
Buch III – Japan 151:
Mein Japan

Shop: Bücher, auf denen mein Name steht

Endlich Finnland V: Schlaflos in Kopenhagen

Heimwärts.Die letzte Fahrt.
Vorher noch zehn Stunden lang Kopenhagen fotografieren. Ohne Schlaf.

Eine Stunde nachdem ich mich nördlich von Helsinki hinlegte, wachte ich schon wieder auf. Der Bus zum Flughafen fuhr in einer Stunde. Vorher noch packen, Zähne putzen, anziehen.
Das halbe Haus wachte wegen mir auf. Der Vater, weil er mich zur Busstation fuhr. Tiina, weil sie mich zum Flughafen begleiten wollte. Und der Hund, weil er mein Frühstück roch.

Im Auto konnte ich die Augen kaum offenhalten. Es zogen eh nur dunkle Bäume vorbei, kein gesunder Finne fährt um die Zeit durch die Wälder. Irgendwo in der Dunkelheit hielten wir dann. Hinter der Böschung liegt die Busstation, sagte der Vater, der zwei Tage zuvor noch mit mir in der Sauna Wodka trank. Aber es ist kalt draußen, wir warten mal lieber drinnen. Die Fenster waren beschlagen und bildeten kleine Bäche.

Teurer Transport durch die Nacht
Schwer rollte der Bus Richtung Helsinki um die Ecke. Er war überraschend voll. Tiina versuchte wieder den Trick, uns beide als finnische Studenten zu verkaufen. Doch jetzt, um vier Uhr nachts, wollte der Fahrer es genau wissen und prüfte meinen Ausweis. Hannover war keine Universität, die er kannte. Also bitte 40 Euro für die Fahrkarte.
So viel hatte ich nicht dabei. Tags zuvor probierte ich vergeblich noch in Mäntyharju alle Geldautomaten durch – in Finnland werden sie „Otto“ genannt. Doch keiner funktionierte, da alle bereits geleert wurden. Otto hatte kein Geld mehr.

Tiina bezahlte für mich und wir nahmen hinten im Bus Platz. Eine Stunde könnten wir wohl noch schlafen, bis wir am Flughafen sind. Aber ich traue Bussen eh nicht, und schlafen kann ich in ihnen sowieso nicht. Tiina gelang das ohne Probleme. Ich musste sie wecken, als wir bereits 45 Minuten später am Flughafen standen.

Zum Abschied lachte sie nur. Wie die ganze Woche schon. Ich verzog die Miene, unsicher wann wir uns wieder sehen würden. Doch sie lachte. Weniger wegen des Abschieds, mehr wegen der gemeinsamen Zeit, die wir hatten. Wir haben fast jeden wachen Moment verbracht. Und auch wenn ich mir in diesem Moment mehr Schlaf gewünscht hätte, ich bereute keinen einzigen davon.

Diesmal war ich weniger nervös, als noch im Flughafen in Kopenhagen. Ein Ticket nach Dänemark hätte ich gern, sie brauchen doch sicher nur meinen Ausweis, wa? Kein Ding, schon tausendmal gemacht. Hier bitte, er glänzt auch extra für sie.
Aber ganz so einfach war es dann doch nicht.
Wer im Internet ein Ticket kaufte, kann es in Helsinki scheinbar nicht am Schalter ausgedruckt bekommen, sondern muss zu einer Maschine. Die funktionierte allerdings nur mit Pässen, oder den ganz neuen EU-Personalausweisen mit Chip. Beides hatte ich nicht. Also musste ich doch das Stück Papier mit meiner Ticketnummer rauskramen und mit der Hand eintippen.
Wie archaisch.

Fünf Uhr. Mein Flieger ging um sieben. Zwei Stunden übermüdet rumkriegen, ohne Lektüre oder Smartphone ist nicht einfach. Einschlafen, unter dem Risiko meinen Flieger zu verpassen, war mir zu heikel. Also mal links durch den Flughafen. Rechts durch den Flughafen. Sonnenaufgang. Reisegruppe von verwirrten chinesischen Senioren schnattert laut. Und dann endlich Boarding. Die 28 Chinesen nahmen meinen Flieger. Die Zahl weiß ich so genau, weil ich sie alle zählte. Was man eben so macht, wenn man sich langweilt. Chinesen zählen. Sie machten wohl grad eine Europa-Rundreise. Souvenirs aus Helsinki hatten sie schon dabei.

Beim Betreten des Flugzeugs musste ich kräftig gähnen. Der Pilot, der uns begrüßte, nahm das sehr amüsiert zur Kenntnis. Als ich in Kopenhagen von Bord ging, fragte er mich noch, ob ich inzwischen aufgewacht bin.
Nein.

Die Senioren hatten Eile, ihr Gepäck zu holen. Ich nicht. Schließlich musste ich noch zehn Stunden rumkriegen.
Mit den restlichen Kronen, die ich noch hatte, zog ich ein Ticket für die S-Bahn. Ab in die Stadt. Der Himmel deutete schon keine guten Bilder an.

Erst einmal Frühstück. Und Kaffee. Viel Kaffee. Dabei trinke ich sonst keinen Kaffee. Doch jetzt brauchte ich ihn. Unbedingt.
In einem kleinen Café ließ ich mich in einen weichen Ledersessel fallen. Mein Gepäck rechts von mir, die Tasse und das Croissant auf der linken Lehne. Im Café spielte „Paperback Writer“ von den Beatles. But I need a break.

Ich ging meine Tickets durch. Von dem Fächer, den ich zu Beginn der Reise erhalten habe, war nur noch eine Fahrkarte übrig. Heimwärts. Die letzte Fahrt.

Ich kam ins Grübeln.
Wird das ab jetzt immer so sein? Reisen, Fotografieren, in fremden Städten Kaffee trinken?
Müde, wie ich war, konnte und mochte ich diesen Gedanken nicht bewerten. Aber es wurde mir klar: Warum ich jetzt hier sitze ist allein meine Schuld. Ich habe den Job aufgrund meiner Arbeit bekommen. Ich habe entschieden, wohin es gehen soll. Keiner hat es mir vermittelt, keiner für mich entschieden. Und das bedeutet folgendes: Es ist komplett reproduzierbar.
Es liegt in meiner Macht zu sagen, wohin ich möchte und was ich dort mache. Klar bin ich davon abhängig, am Ende jemanden mit Geld davon zu überzeugen, mir welches zu geben. Aber je länger ich diesen Quatsch nun schon mache, desto leichter fällt es mir. Und desto weiter geht die Reise.

Ich war überrascht, wie spät ich diesen Gedanken hatte. Denn um ehrlich zu sein, für Japan war mir dies schon immer klar. Wenn ich nach Japan gehe, weiß ich, ich kann mein Zeug loswerden. Wenn ich in Japan für Geschichten reise, dann nie, ohne die Ahnung, am Ende mindestens meine Kosten wieder reinzubekommen.
Für Deutschland probierte ich es gerade aus. Und jetzt auch noch Europa. Das war mir so nur noch nicht klar.

Mir war allerdings klar, wie müde ich war. Knapp neun Stunden hatte ich noch. Also erledigte ich erst mal meine Pflichten. Solange ich noch wach sein konnte. Zum Job gehörte nämlich auch Stadtbilder von Kopenhagen zu machen. Ich nahm mein Gepäck und zog durch die Straßen.

Kopenhagen ist nicht groß. Vieles, was ich eine Woche zuvor schon mit meiner Begleitung abgelaufen bin, sah ich jetzt wieder. Nur, dass ich alleine war. Und der Himmel grau.

Wo letzte Woche noch ein Jazzfestival mit Bier stattfand, war nur graues Pflaster. An der Straßenecke, wo letzte Woche noch eine Blaskapelle spielte, sammelten sich nur die Regentropfen.

In einer Kirche belauschte ich ein deutsches Pärchen, die in ihrem Reiseführer wühlten. Es sollte wohl gleich was großes passieren. Da, die Straße runter. Ich folgte ihnen mal.
Gemeint war die Wachablösung der königlichen Garde. Jeden Tag um 12 Uhr.

Riesenaufwand und Gedränge. Ich fand die vielen Touristen eigentlich spannender, als die Militärheinis.

Und alles stets bewacht. Bloß nicht aus der Reihe tanzen.

Wie die Beefeater in London, dürfen wohl auch diese Puschelmützen keine Miene verziehen. Touristen lichteten sich mit ihnen fröhlich ab.

Auch wenn die Männer selbst das wohl nicht so fröhlich macht.

Je näher ich den königlichen Gebäuden kam, desto strenger die Blicke der Soldaten. Aber ich hatte eh was ich wollte.
Wachablösung war jeden Tag um 12 Uhr. Noch acht Stunden Kopenhagen.


Urban Knitting?

Bereits im Zug nach Kopenhagen erzählten uns zwei betrunkene Dänen von Christiania, einem bunten „Hippie-Viertel“ für Künstler.

Obwohl es mir als „so super frei für Künstler und so“ angepriesen wurde – ich fand die Amtosphäre dort irgendwie angestrengt. Vielleicht schreiben alle Reiseführer über das bunte Christiania, und nun muss man dem Ruf gerecht werden. Oder ich war einfach nur verdammt müde vom Rumlaufen. Wahrscheinlicher ist Letzteres.

Ich lief vorbei an einer Kirche, die inzwischen eine Kunsthalle geworden war, und holte mir einen echten, dänischen Hotdog für 35 Kronen. Jetzt hatte ich nur noch fünf Kronen übrig, die ich auch behalten wollte, da mir die Gestaltung der Münze so gefiel.

Es war jetzt gerade einmal 14 Uhr. Der Tag wollte einfach nicht vergehen. Ich hatte alles wichtige fotografiert und keinen Speicherplatz mehr. Oder Lust. Oder Geld. Oder windfeste Kleidung.
In einer Kirche suchte ich mit meinem Gepäck Zuflucht. Hier war es wenigstens kostenfrei warm.
Zeit, die Fotos durchzugehen.

Als der Pastor begann sich wiederholt energisch in meine Richtung zu räuspern, zog ich von dannen. Ich war müde, mir war kalt, ich hatte kein Geld und kein Obdach in dieser Stadt. Also ging ich zum Bahnhof.

Die letzten drei Stunden verbrachte ich auf ner Bank zwischen Gleis 9 und 10. Schließlich sollte ich im Zug noch Bilder machen. Wenn das irgendwie noch klappen sollte, musste ich mich kurz mal ausruhen. Ich beobachtete Kopenhagen.

Die Kerle trugen keine Jacken, sondern entweder dünne Hemden mit kurzen Hosen. Oder dicke Pullis aus Wolle. Bestimmt mehrere Zentimeter dick, aus ganzen, zusammengepressten Schafen. Oder so. Ich hätte jetzt auch gern so nen Pulli, dachte ich fröstelnd. Die Mädels trugen auffallend oft schwarze Hosen unter einem Rock. Ich zählte 17 in einer Stunde.
Chinesen zählen klappte hier in Kopenhagen nicht.

Dann kam der Zug. Ich suchte meine Kontaktperson, die über mein Kommen informiert sein sollte. Bis heute war ich fünf Mal in der Bahn fotografieren. Nie wusste einer Bescheid. So auch nicht in Kopenhagen. Aber problemfrei akzeptierte man meine Unterlagen und gab mir ein Zimmer. Nur der Zugbegleiter in meinem Abteil nahm es ganz genau. Er überprüfte auch Personalausweis und meine Kamera. Er folgte mir auch durch jedes Abteil, als ich Bilder machte, und verlangte, die Fotos anschließend zu sehen. Er war erst zwei Jahre dabei, also noch jung und pflichtbewusst. Alle anderen Zugbegleiter, mit denen ich zu tun hatte, waren immer länger als sieben Jahre auf der Schiene. Da hieß es stets nur: Ja, passt schon.

Während es mir tagsüber in Kopenhagen noch sehr müßig fiel, mir Bildlösungen für eine Situation oder einen Ort einfallen zu lassen, ging es hier einfacher von der Hand. Ich machte alle Bilder einfach grafisch, brach sie runter auf Linien und Flächen. Ordnet man diese dann ordentlich an, bekommt man ein nettes Bild. Kein spannendes, aber ein sauberes. Für Spannung war ich zu müde.

Direkt nach der Abfahrt ging ein Alarm durch den Zug. Taschendiebe. Erwischt hat man keinen mehr. Wahrscheinlich ist der in Kopenhagen eingestiegen, einmal durch die Waggons, und dann wieder raus. Das gibt es auf der Strecke wohl häufiger. Ich schloss meine Kamera ein und ging zum Zugführer.

Auf meiner Liste hatte ich noch ein paar Fotos stehen. Allerdings, so war die Vorgabe, kann ich nur Bilder machen, wenn die Abteile leer sind. Und es waren alle voll, sagte mir der Zugführer. Ich war fertig.
Das erste Mal seit sieben Tagen war ich fertig.

Skeptisch nahm ich das zur Kenntnis. Die ganze Woche hatte ich noch Sachen im Hinterkopf, die erledigt werden wollen und nicht vergessen werden dürfen. Der Hinterkopf war leer. Ich kramte nach. Wirklich nichts vergessen? Alles gemacht? Alles fotografiert?
Ich war von der neugewonnen Freizeit etwas überfordert und legte mich hin. Mein iPod spielte Beatles. Come together, right now. Over me

Kurz vor Schleswig-Holstein schlief ich ein.

Ein Stopp in Hannover gibt es auf der Strecke eigentlich nicht. Aber da dort eh gehalten wird, um die Brötchen fürs Frühstück mitzunehmen, konnte ich die Zugbegleiter überzeugen, mich 2 Uhr nachts dort rauszulassen.
Ich nahm die letzte U-Bahn der Nacht zu meiner Wohnung. Im Kopf noch Helsinki, die Woche Finnland, das Roggenbrot im Zug. Am Abend wollte noch eine Kommilitonin vorbei kommen, nächste Woche war Abgabe für eine Hausarbeit. Und in vier Wochen würde ich schon wieder in Tokyo aufwachen und dort Kaffee trinken.

Epilog
Die Bahn war zufrieden mit meinen Bildern. Nachdem ich meine erste Auswahl abschickte, wollten sie noch mehr Fotos haben. Und selbst die, die ich aussortiert hatte, fanden sie dann gut.
Vorletzte Woche erreichte mich die Broschüre, in der sie einige der Fotos abdruckten. Zum Nachtzug gibt es gerade ne große Werbekampagne, in Bahnhöfen, auf Postern oder in Broschüren im ICE o.ä. Einige Bilder sind von mir, aber die gesamte Kampagne haben natürliche andere Fotografen gemacht. Ich bin da nur reingerutscht, meine Bilder kamen grad zeitlich passend.

Das ganze Ding war auf jeden Fall ein großer und wichtiger Schritt für mich als junger Fotograf. Sowohl als Referenz, als auch um meine Grenzen und Belastbarkeit auszutesten. Ich habe viel mitgenommen aus Finnland. Allen voran Tiinas Erkältung, die mich nach der ersten Nacht in Hannover erwischte.

Endlich Finnland
Teil 1 – Train Job
Teil 2 – Helsinki ist nicht hell
Teil 3 – Im Haus am See
Teil 4 – Im Innern des Waldes
Teil 5 – Schlaflos in Kopenhagen
Extra: Das Saunamobil

Froschhochzeit

Eine deutsch-japanische Heirat.

Ich bin kein Hochzeitsfotograf.
Trotzdem fragte mich Anji in der U-Bahn in Tokyo, ob ich im Dezember zur Verfügung stehe. Es war ein Tag im Oktober und das erste Mal, dass wir uns überhaupt mal richtig sahen. Und trotzdem wollte sie gleich, dass ich bei ihrer Hochzeit Bilder mache. Kurz vor Weihnachten, südlich von Hamburg.
Gerne.

Das erste mal traf ich Anji auf den Straßen von Tokyo im Sommer 2011. Ich war gerade zu Besuch in Japan und lebte wieder in meiner alten WG in Nakano, die inzwischen wieder zahlreiche neue Mitglieder hatte. Eine davon war mit Anji gerade vor der Haustür, als ich Richtung Conbini marschierte. Erst versuchten wir es auf Englisch, dann stellte sich aber raus, dass wir beide aus Deutschland kamen und sogar gleich alt waren. Sie war gerade frisch verheiratet und wohnte in der Nähe. Das war mir direkt mal sympathisch. Alle Deutschen, die ich sonst so in Tokyo traf, waren entweder älter als ich, Studenten mit Stipendium, oder blutjunge Working Holiday Reisende. Anji aber arbeitete. Wie ich.

Als ich vom Conbini zurück kam, war sie bereits weg. Ich hatte unsere Begegnung als Randnotiz meiner Tokyo-Reise schon abgehakt, da entdeckte ich zurück in Deutschland einen Blog. Geschrieben von einer jungen Deutschen in Tokyo. Aus Nakano. Frisch verheiratet. Ich zählte zwei und zwei zusammen und schrieb sie auf Facebook an. Von da an unterhielten wir uns regelmäßig über das Leben und Arbeiten in Japan, kreative Berufe und Hoffnungen für die Zukunft.
Erst bei meiner letzten Reise nach Japan sollte ich sie wirklich kennen lernen. Und kaum zwei Monate später trafen wir uns schon in der Kirche.

Das heisst, getroffen haben wir uns erst nach der Trauung. Doch der Reihe nach.
Um 6 Uhr früh machte ich mich auf dem Weg in Hannover. Es gab einen Kälteeinbruch über Nacht, die Straßen waren glatt und dunkel. Die Straßenbahn Richtung Hauptbahnhof hatte Verspätung und der Zug nach Hamburg kommt nur einmal die Stunde. Es wurde knapp. Im Hauptbahnhof musste ich rennen, um den Zug noch zu erwischen. Neben mir rannten noch andere, die schon in der Straßenbahn neben mir saßen. Doch ich war der schnellste. Hinter mir gingen die Waggon-Türen zu und der Zug fuhr los, eh ich wieder Luft schnappen konnte. Aus dem Fenster sah ich noch meine Mitreisenden. Sie hatten es nicht geschafft. Ich hatte jedoch keine Zeit zu verlieren, schließlich galt es eine Hochzeit zu fotografieren. Der wichtigste Tag im Leben.

Zwei Stunden später in Hamburg wurde ich von Anjis Freundinnen aufgelesen und zur Kirche gebracht. Wir standen eine Weile an einer Ampel, mit dem konstanten Blick auf die Uhr. Um 12 sollte die Trauung sein, es war bereits weit nach 11 Uhr.
Links von uns war ein großes Graffiti, es erstreckte sich über eine ganze Häuserwand. Die Wellen erinnerten mich an ein bekanntes ukiyo-e, eine urjapanische Kunstform. Ich nahm es als Omen für den Tag.

Angekommen suchte ich das Brautpaar, doch beide waren nicht zu entdecken. Die Zeit drängte. Ich bereite mich schon mal vor und schraubte das Objektiv an die Kamera, dass ich mir extra für die Hochzeit besorgt hatte. Ich hatte es zuvor noch nie benutzt, mir wurde aber gesagt, es sei das klassische Hochzeitsobjektiv und man könne damit nicht viel falsch machen.

Das Objektiv wog jedoch schwer in der Hand und in der dunklen Kirche war es schwierig, ein scharfes Bild zu zaubern. Die Braut lächelte mich hingegen vom anderen Ende der Kirche an. Um 12 Uhr sollte ich da sein, und um 12 Uhr war ich da. Das vorher keine Zeit mehr für ein Gespräch oder eine Begrüßung blieb, war nebensächlich. Ich denke, sie war auf jeden Fall erleichtert, sich nun nicht auch noch um den Fotografen zu sorgen – auch wenn der Blick häufig in meine Richtung ging. Ist er noch da? Macht er noch Bilder?

Dann das übliche. Kuss, Ring, Familienfotos. Das kannte ich ja alles bereits. Nur die Weihnachtsdeko irritierte, schließlich war zwei Tage später schon Heiligabend und alles war drauf eingestellt. Auch das Wetter. Weiß in Weiß war die Braut im Schnee. Ein Albtraum für die Kamera. Aber die Braut freute sich.

Als ich mit Bekannten über die Hochzeit sprach, meinten die nur: „Die Braut hat ein Lächeln, da lacht die ganze Welt mit.“
Je mehr ich über die Organisation und die Umstände der Hochzeit erfuhr, desto mehr beeindruckte mich ihr Lächeln. Anji hat das komplette Ding so gut wie alleine organisiert. Auch bei der Hochzeit war sie noch die Managerin, bei der alles zusammenlief. Ganz ohne Trauzeugen oder Brautjungfern. Auch die Eltern nahmen nicht zu viel von ihrer Last ab. Von Tokyo aus organisierte sie nun fast alleine eine große Hochzeit im norddeutschen Hinterland. Mit Mitte 20. Respekt.

(Verheiratet waren die beiden schon vorher, nur jetzt folgte die Zeremonie. Vorher fehlte Zeit und Geld.)

Neben der Braut und dem Bräutigam war ich der einzige, der sich einigermaßen in Deutsch, Englisch und Japanisch verständigen konnte. Ich denke, das war auch eine große Entlastung für die Braut. Mit der Familie des Bräutigams, die extra wegen der Hochzeit nach Deutschland reiste, konnte ich gut reden oder eventuelle Fotokommandos geben. Die Braut musste nicht immer übersetzen.
Der japanische Vater lud mich anschließend auch in sein Haus in Saitama ein. Liebenswert.

„Ich brauche mehr Details“
Vorgaben für die Fotos machte die Braut mir kaum. Ich sollte nur möglichst viele Details und Nahaufnahmen mitnehmen. Auch sollte jeder mal auf einem Foto zu sehen sein. Und dann natürlich noch der Kuchen. Selbstdesignt.

Was mir bei meiner ersten Hochzeit noch schwer fiel, waren die Paarportraits. Inszenieren ist ja nicht so meins. Ich hatte diesmal mir etwas überlegt, wollte aber lieber mit dem arbeiten, was mir geboten wurde. Im großen, dunklen Tanzsaal im Erdgeschoss fand ich dann die Fenster, die mir das beste Portrait erlaubten. Etwas rumprobieren, zwischendurch Nase kratzen und draufhalten. Fertig.

Wir hatten vorher allerdings nicht vereinbart, wie lange ich denn Bilder machen sollte. Der Abend wurde immer länger und die Speicherkarten voller. Am Ende kam ich auf 10 Stunden Fotografieren und 2.400 Fotos. Uff.
Alleine kann man auch gar nicht alles mitnehmen. Mal muss die Karte gewechselt werden, oder für den Kuss ist das falsche Objektiv vorne dran. Wie gesagt, ich bin kein Hochzeitsfotograf. Höchstens ein Hochzeitsfotografritz.

Als Ausgleich für den langen Tag stellte mir das Brautpaar ein Zimmer in dem Gasthaus zur Verfügung. Auch zum Essen war ich eingeladen. Das war einfach nur fantastisch. Und das beste: Sobald der Teller leer war, kam eine Kellnerin und füllte ihn wieder auf. Wie ein nicht versiegendes Füllhorn. Der Traum eines jeden Studenten.

Bevor ich gegen 23 Uhr müde ins Bett fiel, nahm ich noch am Mit-Stäbchen-Essen-Wettbewerb Teil. Ich belegte den dritten Platz, nach zwei Japanern. Aber die waren eh im Vorteil.

Anschließend begann die Nacharbeit. Die über zweitausend Fotos durchzusehen, die ja auch fortlaufend gewünscht wurden, war nicht einfach und dauerte lange. Das zwischendurch noch die Semesterarbeiten an der Uni entstehen und abgegeben werden mussten, tat sein übriges. Die Braut wurde ungeduldig.

Damit sie nicht ganz ohne Bilder war, wagte ich ein Experiment. Bereits in der Kamera fiel mir auf, wie filmisch ich fotografierte. Es ergab kleine Sequenzen oder Perspektivenwechsel. Als ich nun also wieder zuhause war, lud ich alle Fotos auf den Computer und ließ sie als Bilddateien ausrechnen. Alle 2.480. Komplett unselektiert und unbearbeitet. Das reine Exportieren dauerte 5 Stunden.

„Der Unterschied zwischen einem Profi-Fotografen und einem Amateur ist: Der Profi zeigt niemals seine schlechten Bilder.“
So ein Sprichwort, das ich auch in meiner Arbeit (und diesem Blog beherzige). Hier nun aber einmal alle Bilder eines Shootings. Von unscharf bis ungenau. Hier könnt ihr mal sehen, wie ich arbeite, welche Momente viele Fotos fordern und wie ich meine Positionen korrigiere.
Das sind die Bilder, direkt wie ich sie gesehen habe.

Die nächste Hochzeit kommt bestimmt. Aber sicher nie wieder mit so vielen Fröschen.

Mehr Bilder im Blog der Braut: Meine Traumhochzeit