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Live and Sea

In der Nacht, eine Email. Eine Professorin meiner Uni bittet mich nach Iwaishima.”Fritz, deine Anwesenheit und deine Kamera kann etwas bewirken!”

Zusammen mit ihr machte ich mich auf den Weg zur Insel vor Hiroshima.

Die Professorin kannte ich vom Namen, aber getroffen hatte ich sie bisher noch nicht. Ich bat sie mich bei meinen Projekten in Hiroshima zu unterstützen, doch sie winkte immer ab. Sie war zu beschäftigt. Zudem hatte sie gerade die ganze Arbeit für meinen Vorgänger erledigt, den letzten Fotojournalismus-Studenten aus Hannover. Doch jetzt war es eilig. Gegen 3 Uhr früh kam ihre Email.

Iwaishima – Insel unweit von Hiroshima in der Yamaguchi-Präfektur, gelegen in der wunderschönen Seto-Inlandssee. Nur noch 360 Menschen leben hier, 80% von ihnen mehr als 60 Jahre alt. Jedes dritte Haus steht leer, weil es keine lebenden Verwandten mehr gibt, oder Leute, die auf der Insel wohnen wollen. Die Insel stirbt.

Aber: Die Insel kämpft. Seit den 80er Jahren wollte der Stromkonzern Chugoku Denryoku, einziger Stromanbieter in Westjapan, ein Atomkraftwerk vor der Insel bauen. Auf der Rückseite der Halbinsel Kaminoseki sollten die Kühltürme versteckt werden, direkt an der Küste vom Meer. Die einzigen, die das Kraftwerk gesehen hätte, wären die Bewohner von Iwaishima gewesen. Sie waren auch die einzigen, die das Kraftwerk ablehnten.

Den Senioren von Iwaishima ist es zu verdanken, dass bis heute nicht einmal das Fundament vom Kraftwerk steht. Schon lange vor Fukushima protestierten sie gegen den Bau. Und nach Fukushima sah es so aus, als würde nichts mehr passieren. Die Baupläne wurden auf unbestimmte Zeit verschoben.
Die Alten hatten gewonnen.

Am Montag Morgen um 7 Uhr stand ich vor der Uni. Die Professorin wollte mich in ihrem Auto abholen und zur Fähre bringen. Gemeinsam wollten wir zur Insel aufbrechen und mit dem Inselrat sprechen. Auf dem Weg sammelten wir noch einen deutschen Experten für Strahlenschutz ein, der gerade für ein Seminar in Hiroshima war. Er war Ost-Berliner und saß früher im Senat. Die Professorin erklärte uns die aktuelle Lage während ich mit dem ehemaligen Abgeordneten aus Berlin im gelben Toyota saß.

Es geht um Geld. So genanntes Garantie-Geld wurde von der Stromfirma allen Fischer der Region angeboten, für den Fall, dass was passiert. Es ist aber mehr oder weniger Schweigegeld, um das Kraftwerk zu akzeptieren. Denn sollte wirklich was passieren, ist die gesamte See verseucht und alle Fischer arbeitslos.
Alle Fischer in der Region nahmen das Geld an. Alle – bis auf Iwaishima.

Doch jetzt, nach Fukushima, gehen die Fischer auf der Insel nicht mehr davon aus, dass das Kraftwerk jemals gebaut werden wird. Warum also nicht jetzt das Geld nehmen?
Es gab eine öffentliche Abstimmung auf der Insel im letzten Jahr, bei der sich die Mehrheit der Fischer gegen das Geld ausgesprochen haben. In den nächsten Tagen riefen sie dann aber nach und nach heimlich bei der Stromfirma an. Sie haben ihre Meinung geändert oder waren von der Abstimmung verwirrt. Sie sind aber voll dafür, das Geld zu nehmen. Ergebnis: Die Mehrheit entschied sich für das Geld, die Stromfirma kann nun auszahlen.

Auf der Insel gibt es nun zwei Lager und die Graben sind tief. Auch wenn die Verteilung nicht gleichmäßig ist: Nur knap 35-50 Menschen wollen das Geld. Alle anderen lehnen es ab.

Das ganze wird nun aber noch komplizierter:
Seit mehr als zehn Jahren sitzt das Geld für die Fischer auf Konten der Regierung. Als nämlich in den 90er Jahren die Stromfirma die Fischer von Iwaishima auszahlen wollten, überwies die Insel das Geld gleich wieder zurück. Es landete dann auf kommunalen Konten, die das Geld nicht anrühren dürfen.
In den Jahrzehnten haben sich aber Zinsen und Steuern auf die Summe angesammelt, von denen keiner so recht weiß, wer sie nun bezahlen muss. Die lokale Regierung, die für den Bau vom Kraftwerk ist, will natürlich das Geld ausbezahlt sehen, und sich nicht mehr mit dem Problem vom “fremden Geld” befassen müssen. Zudem gibt es anscheinend auch eine Frist, nach der das Geld verfällt. Keiner sieht mehr so recht durch. Auch die Leitung der Insel ist gespalten.

Für Jahre hat Herr Yamato die Proteste geleitet. Damit hatte er de facto die Leistung über die Insel. Ich traf ihn zwei Mal. Auf mich machte er immer den Eindruck eines schmierigen Politikers. Früher arbeitete er sogar für die selbe Stromfirma, gegen die nun protestiert wird. Aber das muss nix heißen. Viele auf der Insel arbeiteten früher für den Konzern. Ist halt ein großer Arbeitgeber in der Region. Aber Yamato ist nicht sehr beliebt, er ist ein etwas unbequemer Arsch Mensch.
Doch gerade deswegen haben ihn die Inselleute immer wieder gewählt. Die Idee war: Wenn er bei uns schon unbequem ist, ist er auch zur Stromfirma unbequem, und kann unsere Interessen vertreten.

Die Rechnung ging auf. Und als der Kampf gewonnen schien, trat Yamato zurück. Herr Shimizu übernahm seine Rolle. Er ist sehr beliebt auf der Insel, ein sehr ruhiger Mensch, immer wohl überlegt.
Im letzten Jahr, wo es nun darum ging, über das Geld zu entscheiden, trat Yamato wieder überraschend zur Wahl an. Shimizu und Yamato – beide haben am Ende gewonnen. Und die Insel bleibt gespalten. Auch wenn Yamato sich seit dem letzten Jahr nie zum Geld geäußert hat. Ob er dafür ist oder nicht ist unklar.

Früher war die Insel vereint und kämpfte gegen den gemeinsamen Feind, gegen den Stromkonzern.
Der Kampf ist gewonnen, der Feind ist weg.

Nun bekämpfen die Menschen auf der Insel sich selbst.


Ein Bootsbauer auf der Insel bastelt in seiner Freizeit kleine Flugzeuge aus Holz, die auf der Insel verstreut sind

Sollen sie doch das Geld nehmen, meinte pragmatisch der Strahlenexperte auf dem Beifahrersitz. Konkret geht es um eine Milliarde Yen für die Insel. Der Kampf ist aussichtslos, die Insel stirbt. Wie lange können die Senioren noch kämpfen? Zehn, Zwanzig Jahre? Am Ende wird es sie nicht mehr geben, und der Konzern sitzt es aus. Sie sollen lieber das Geld nehmen, schlug der ehemalige Abgeordnete vor, statt sich gegenseitig an die Gurgel zu gehen. Go out with a bang! Und einer großen Party. Denn so zahlen sie mehr oder weniger eine Milliarde Yen für ein Schild, auf dem steht “wir sind gegen das AKW” – während alle anderen in der Region das schon abgesegnet haben.

Die Professorin blieb japanisch höflich: “Ich weiss nicht….”. Der Berliner konnte sich kein deutsches Dorf vorstellen, dass so lange den Widerstand betreiben möchte. Allerdings, entgegnete ich vom Rücksitz, haben deutsche Dörfer Verbindungen auf dem Land und können zur Not weg. Auf der Insel ist man eben auf der Insel. Zudem gilt in Japan irgendwie immer noch das Samurai-Credo. Ehre im Tod. Und die Ehre der Ahnen.
Als was wird man die Insel erinnern? Als die Insel, die 30, 40 Jahre lang gekämpft hat? Oder die Insel, die nach Jahrzehnten am Ende doch aufgegeben hat – und das Geld nahm?

Welche Legende wird bleiben.

Der Abgeordnete schwieg. Die Professorin schaute auf die Karte, denn sie hatte sich verfahren. Wir verpassten dadurch eine der drei Fähren, die am Tag zur Insel fahren. So wie ich damals, 2010, als ich das erste Mal nach Iwaishima fuhr. Damals fragten wir im Hafen einfach herum, bis wir ein Boot fanden, das uns fuhr.
Inspiriert von meinem Erlebnis hielt die Professorin an und fragte. Ich schaute mich um. Es war exakt der gleiche Ort, wo ich vor vier Jahren nach einem Boot fragte. Vier Jahre und drei Bücher später stand ich nun wieder hier. Wieder auf dem Weg zu Insel.

Beim ersten Boot hatte sie gleich Glück. Der Kapitän stammte sogar von der Insel. Obendrein wartete er auf den ehemaligen – und nun wieder – Anführer Yamato. Er war sein Chauffeur.

Im Innern vom Boot lagen Reismatten und Rettungswesten. Yamato senior würdigte mich keines Blickes. Seinen Sohn, den ich vor vier und drei Jahren interviewte, erinnerte sich nach einer kurzen Überlegungszeit an mich. Du warst der mit dem Buch!

Während Yamato junior uns die aktuelle Lage und den Plan für den heutigen Tag erklärte, stand sein Vater mit ausgestrecktem Bein neben dem Kapitän.

Der Anwalt der Insel ist heute gekommen. Zusammen mit dem Inselrat wollen sie eine Lösung finden, die Sache mit dem Geld legal anzufechten. Es gibt da wohl viele Ungereimtheiten, erklärte Yamato junior. Anschließend kommen die Bewohner der Insel für ein Meeting zusammen. Für den nächsten Tag haben sich nämlich Vertreter der Fischerei-Gewerkschaft von der Präfektur angekündigt. Mal wieder. Sie wollen mit den Inselbewohnern reden. Doch die wollen nicht, dass sie überhaupt die Insel betreten. Mit vollen Körpereinsatz wollen sie sie zurück ins Boot drängen. So wie sie es schon oft gemacht haben. Mit Vertretern vom Stromkonzern, mit Anwälten, Politikern.

“Das ist kindisch!”, sagte der Anwalt im Hauptquartier der Protestbewegung auf der Insel. Im schwarzen Anzug lief er auf dunklen Socken auf den Reismatten auf und ab. Um ihm herum saß der Inselrat, Shimizu und wir. Zwischen den Senioren, Fischern und Farmern wirkte er direkt etwas blass.
Jeder hatte vor sich Papiere liegen. Darunter die Vorgangsweise zur Abstimmung über das Geld, und was dabei nicht funktionierte. Ein alter Mann, dünn mit eingefallen Wangen und brauner Haut, durch die sich die Falten wie feine Federstriche durch Reispapier zogen, gab dem Anwalt recht. Es ist kindisch. Die Entscheidung über das Geld ist schon gefallen. Die Leute von der Gewerkschaft wollen nur reden. Sie jetzt zurück zum Boot zu drängen, ändert nichts an der Entscheidung. Wir sollten lieber überlegen, wie wir das ganze auf rechtlichen Wegen ändern können.

Der Anwalt nickte. Allerdings versteht er die Gefühle der Inselbewohner. Sie wollen zeigen, dass sie noch nicht aufgegeben haben. Der Kampf und die Entschlossenheit der Senioren war es schließlich, was ihn überzeugte, die rechtliche Beratung zu übernehmen.
Er ist Mitglied der kommunistischen Partei Japans und großer Fan von Deutschland. Er empfahl der Runde ein japanisches Buch über die PDS und dessen Entwicklung zur Linkspartei. Als ich ihn fragte, was er denn von Gysi hält, war ihm der Name geläufig. Gute Frau, sagte er.
Na, das üben wir noch mal.

Es gab Bento und wir stellten uns reihum vor. Da war eine Autorin aus Tokyo, die zwei Jahre auf der Insel lebte und ein Buch über das alte Leben hier schrieb. In der Ecke, die Kamera in der Hand, saß Tohjo, auch wenn er mich nicht mehr erkannte. Als einer von mehr als 20 jungen Kayak-Aktivisten kam er vor fünf Jahren auf die Insel. Ich interviewte ihn damals für mein Buch. Ich stellte mich nun als der deutsche Fotograf vor. Er nahm sofort die Pose ein, die ich ihn damals für das Buch habe machen lasse. Eine fürchterliche Pose, soviel weiß ich nun, vier Jahre später. Aber er erinnerte sich.
Er wohnt nun nicht mehr hier. Aber seit Fukushima dreht er an einem Film – über die Insel und über Fukushima. Für neues Material ist er jetzt hier.

Shimizu blieb die ganze Zeit still und stellte sich ganz ruhig am Schluss vor. Um seine Rolle als Anführer machte er kein großes Aufheben. In seiner Windjacke und Baseball-Mütze war er von den anderen Senioren nicht mehr zu unterscheiden.

Um 14 Uhr war dann Inseltreffen. Alle sollten kommen. Treffpunkt war im Gemeindehaus, was irgendwie auch als Notfall-Krankenhaus und Bürgeramt funktioniert. Es fiel mir schwer, das Gebäude einzuschätzen. Es war auf jeden Fall nicht jünger als die Bewohner der Insel.

Der Inselrat bereitete das Treffen vor, bei dem der Anwalt über die aktuelle Lage informierte. Tohjo und Hashimoto blickten aus dem Fenster vom Versammlungssaal, in die unsichere Zukunft der Insel.

Nach und nach trafen dann die betagten Herschaften ein. Die alten Damen freuten sich, Tohjo wieder zu sehen. Mit fast 30 gehört er doch zu den wenigen jungen Leuten auf der Insel. Er wohnt inzwischen mit seiner Frau auf dem Festland. Aber man erinnerte sich noch gern an ihn.
Er bat mich auch, keine Fotos von den Senioren zu machen. Zumindest nicht solche, wo man das Gesicht erkennt. Er sagte, dies sind die “echten Inselmenschen” und ich verstand nicht, was er meinte.

Bis ins Treppenhaus drängten sich die Inselmenschen. Alle wollten wissen, wie es weiter geht und was der Plan für morgen ist. Alle lauschten dem Anwalt.
Ich hatte Schwierigkeiten, ihn zu verstehen. Es war sehr viel super-höfliches Japanisch in seinem Monolog. Er lobte die Jahrzehnte des Protests, die harte Arbeit der Senioren. Aber, so bat er sie doch, es nicht zu übertreiben und auf die Gesundheit zu achten. Sie haben genug erreicht, nun ist es an ihm, auf rechtlichen Wegen zu kämpfen.

Yamato senior meldete sich am Schluss vom Monolog. Anschließend gab es Fragen. Yamato junior, sein Sohn, regte an, dass das eigentliche Problem doch die Schulden der Fischer sind. Wenn die Insel es schafft, diese zu beseitigen, dann könnte man aufs Geld verzichten.
Die See ist zwar reich an Fisch, doch der Wettbewerb ist hart. Die Fischer verdienen nicht genug. Größter Kostenfaktor ist der Boss der Fischerei-Gewerkschaft der Insel. Denn der Boss stammt nicht von der Insel und seine Anreise wird teuer bezahlt. Er wurde von der Hauptgewerkschaft geschickt – die ja dem Kernkraftwerk zugestimmt hat.

Als sich alle auf den Weg machten, nahm Shimizu das Mikrofon in die Hand. Er mahnte noch mal zur Vorsicht für den nächsten Tag. Nicht schubsen, nicht gewalttätig werden. Das könnte gegen die Insel verwendet werden. Aber schreien ist okay.
Doch es hörte ihm kaum noch einer zu. Die Hälfte war schon die Treppe runter.

Seit meinem ersten Besuch auf der Insel 2010 hatte sich viel getan. Erst recht nach Fukushima. Es gibt nun Cafés auf der Insel. Eines davon besuchten wir, der Strahlenschutzexpert aus Ostberlin und meine Professorin, zusammen mit dem Inselrat, Anwalt und Shimizu. Man lud uns ein.

Anschließend nahmen der Berliner und die Professorin die letzte Fähre am Tag. Ich wollte noch bleiben. Hashimoto organisierte meine Unterkunft. Es war nicht sein Haus, aber er kümmerte sich darum. Nachdem der Besitzer starb, stand das Haus leer. Nun dient es Aktivisten und “Freunden der Insel” als kostenfreie Übernachtungsmöglichkeit.
Es war das gleiche Haus, wo ich schon vor drei Jahren schlief, bei meinem zweiten Besuch.

Die Autorin aus Tokyo schlug vor, dass wir am Abend zusammen essen. Aber bis dahin war noch etwas Zeit. Ich wollte erst noch die Insel erkunden, die ich drei Jahre lang nicht mehr sah.



Die verwinkelten Gassen kannte ich noch gut. An einer besonders engen Ecke stieß ich fast mit einer Dame zusammen. Sie erschreckte sich kurz. Ich bin nur Ausländer, sagte ich, kein Grund sich zu erschrecken. Sie lächelte. Bei Ausländern erschrecke ich mich nicht mehr.
Ich lief ein Stück mit ihr.

Sie war eine der Neuen, eines der Cafés auf der Insel gehörte ihr. Als ich ihr sagte, dass ich aus Deutschland komme, sprach sie etwas Deutsch mit mir. Sie hatte acht Monate in Düsseldorf studiert. Sie sprach mit nur einem geringen Akzent, aber viele Worte fehlten ihr. Mir fiel es dann wieder ein, dass ich sie schon einmal sah. Im ZDF.
Als ich 2010 auf der Insel war, war ich der erste deutsche Journalist, der über den Kampf berichtete. Nach Fukushima stürmten die Journalisten dann nach Iwaishima.

Das ZDF war in ihrem Café und stellte sie damals als eine der Neuen auf der Insel vor. Ich bat sie nun also, mir doch mal ihr Café zu zeigen. Heut hat sie zwar geschlossen, aber kurz zeigen war okay. Wir müssen vorher aber noch bei ihrer Meisterin vorbei. Die dampfte grad Algen.

Das habe ich schon ein paar Mal auf der Insel beobachtet. Das Seegras wird getrocknet und/oder geräuchert – und dann u.a. als Delikatesse nach Tokyo geliefert. Es ist tatsächlich sehr lecker und gesund. Schmeckt ein bisschen wie Rotkraut.

In ihrem Café gibt es nur lokales Essen. Der Kaffee ist zwar importiert, aber der Tee, Reis und die Früchte kommen von der Insel. Sie lebt hier alleine, mit einem Hund und einem Huhn. Ihre Familie, sagt sie.


Kokochan, das Huhn, frisst getrocknetes Seegras, während im Hintergrund Wasser aus der Erde gepumpt wird

Auf ihrem Dach hatte sie auch Solaranlagen. Yamato senior hatte als letzte Amtshandlung einen Plan angetrieben, der die Insel komplett unabhängig machen sollte vom Stromkonzern. Doch die Dächer reichten nicht aus, genug Strom für alle zu generieren. Es spaltete die Insel, nicht alle waren dafür. Yamato ging und hinterließ eine halbe Insel mit Solarzellen, die aber komplett noch vom Konzern abhängig war.

Ich gab der Dame vom Café meine Visitenkarte, wie es üblich ist in Japan, wenn man sich vorstellt. Sie schaute etwas grimmig und gab sie mir zurück. Sie will Energie sparen und kein Papier vergeuden. Also sollte ich die Karte doch mal lieber behalten.

Ich zog weiter über die Insel.

Kurz vor dem Haus von Hashimoto kam mir die Autorin aus Tokyo aus einer der dunklen Gassen entgegen. Sie sprach recht schnell, also verstand ich sie kaum. Ich hörte nur “Freund”, “da drüben”, “jetzt” und “shokudô” – was wörtlich “Essenshalle” heisst, aber meist mit “Mensa” übersetzt wird. Wie also vorher abgesprochen sollten wir in einem Restaurant essen gehen. Mit einem Freund, nahm ich an.

Zielsicher bewegte sie sich durch die mittlerweile finsteren Gassen der Insel. Vor einem weißen Haus machte sie halt und sagte: Hier ist es. Draußen war kein Schild, Menü oder Name. Aber wird schon passen, dachte ich mir. In dem Dorf kennt sicher jeder das Restaurant und drinnen gibt es ein Menü.

Geselliger Abend
Der Tisch war gedeckt für zehn Leute. Für uns vier – Tohjo, die Autorin, die Köchin und mich – war es viel zu viel. Es gab gebratenes Wildschwein, fritierte Auster, zwei Schüsseln voll mit Kartoffelsalat, dazu Sushi und Reis. Alles von der Insel. Alles köstlich.

Ich schluckte gerade das Schweinefilet runter, als ich die Köchin zu ihrem Restaurant fragte. “Sagen Sie, wie lange haben Sie schon die shokudô?”
Keiner sagte etwas, alle guckten sich nur irritiert an. Im Hintergrund lief der Fernseher.
Shukudo? Das ist meine Wohnung!

Es stellte sich heraus, dass es die Frau von Hashimoto war. Was die Autorin mir vorher versuchte zu erklären, war, dass wir anstatt in die shukodu, zu einer Freundin gehen und essen. Der ganze Tisch lachte.

Frau Hashimoto wurde auf der Insel geboren, lebte aber mehr als 30 Jahre lang in Osaka und arbeitete als Friseurin. Sie hatte sich den Kansai-Charme behalten. Etwas schnodderig und frech machte sie konstant Witze. Vor allem über den “merkwürdigen Ausländer” wie ich mich selbst beschrieb, als sie mir ein Bier anbot und ich ablehnte (“Was? Aber du bist doch Deutscher! Deutsche lieben Bier!”). Und das schönste war: Jeder Witz hat gezündet. Ich habe lange nicht mehr so viel gelacht wie an diesem Abend. Frau Hashimoto war einfach nur herlich.
Sie könnte direkt aus Berlin stammen. In all ihrer Schnoddrigkeit hatte sie ein gutes Herz. Wie eine Großmutter ermutigt sie mich ständig, mehr zu Essen. Sie holte dann noch den Sake raus und mein Glass war nie leer, weil sie ständig nachschenkte.

Später kamen noch ihr Mann, Shimizu und der halbe Inselrat hinzu. Mit den Männern leerte ich den Sake. Die Autorin hatte sich in die Ecke zurückgezogen und tippte in ihren Laptop.
Nach vier leeren Gläsern war mein Japanisch so gut wie noch nie. Ich verstand 80% von dem, was mir die alten Herren erzählten. Mein Gehirn hat sich auch einfach umgeschaltet. Denn sonst habe ich nämlich immer jemanden dabei, der irgendwie noch Englisch kann. Doch die Professorin, die zuvor für mich übersetzte, war weg. Ich war komplett alleine auf der Insel mit meinem Japanisch. Und es funktionierte.

Im Vorfeld war ich besorgt über meine Neutralität. Die zwei Lager, Yamato und Shimizu – wenn ich mich zu einem bekenne, lehnt der andere mich eventuell. Ich bin Journalist, ich will neutral bleiben. Ich will mich auch nicht von einem Lager ausnutzen lassen, wie wenn z.Bsp. der eine meine Bilder gegen den anderen einsetzt.
Allerdings habe ich vorher immer an Yamato gehangen. Er war Leiter, also als Interviewpartner für mich wichtig. Nun saß ich mit Shimizu am Tisch und war viel mehr integriert in das Leben der Insel, als ich es je mit Yamato war. Shimizu ist beliebter und ich merkte es.

Weisheit der Alten
Ich unterhielt mich mit den Senioren über den Protest und Politik, meine Projekte und den Krieg. Abe, aktueller Premierminister von Japan und Enkel eines hochklassigen Kriegsverbrechers, ist ein absoluter Dilettant in Sachen Aussenpolitik. Regelmäßig verärgert er China und Korea mit ignoranten Äußerungen zum Krieg. Seit er an der Macht ist, gab es in Japan einen ordentlichen Ruck nach Rechts. Die alten Herren am Tisch, teilweise kurz nach dem Krieg geboren, finden Abe furchtbar. Er sorgt nicht gerade für ein aufgeklärtes Volk. Fukushima spielt er runter. Und die Insel ist alleine in ihrem Kampf – Regierung und Bevölkerung sind gegen sie.

Wie man junge Japaner besser aufklären kann fragte ich am Tisch. Es wurde kurz still. Eben lachten wir alle noch kräftig. Frau Hashimoto war in der Küche mit dem Abwasch beschäftigt. Einer der Herren sprach.
“Ich habe von meinen Eltern vom Krieg gelernt. Diese Erinnerungen habe ich an meine Kinder und Enkel weitergegeben.”
Aber, so werfe ich ein, wird denn mit jeder Generation die Erinnerung an den Krieg nicht schwächer und weiter entfernt?
“Ja, aber”, sagte er “es wird immer Krieg geben, von dem wir lernen können.”

Bevor es dann am nächsten Tag mit dem Protest los ging, hatte ich noch ein persönliches Ziel: Den Sternenhimmel fotografieren.
Eine Insel im Meer, abseits von der Lichtverschmutzung der Stadt, bot sicher eine grandiose Aussicht. Vor vier Jahren verließ ich die Insel an einem Nachmittag. Vor drei Jahren gab es Dauerregen und einen bewölkten Himmel. Doch jetzt. Jetzt sollte es klappen.

Als ich aus dem Haus von Hashimoto wankte, sah ich bereits die Sterne über den Gassen. Frau Hashimoto rief mir noch hinterher. “Gebt dem Jungen doch ne Taschenlampe mit!” Aber die hat ich schon.

Die Schule ist nun übrigens keine Ruine mehr. Es gibt drei Kinder und zwei Lehrer. Und einen Blog.

Mein Stativ hatte ich nicht dabei. Nur die Taschenlampe, die mir auch die zahlreichen schiefen Treppenstufe zeigte. Ich balancierte das Objektiv auf ihr – bis die Lampe brach.

Guter Zeitpunkt, nachhause zu gehen. Morgen wird ein langer Tag. Für mich, die Insel und die Senioren.

Regenschirmblumen

Zum Jahrestag des großen Erdbebens vom 11. März 2011 hat der Künstler Mirey Hiroki 351 bemalte Regenschirme in Hiroshima aufgespannt. Am Abend fingen sie an bunt zu leuchten.

In den sechs Monaten, in denen ich jetzt schon in Hiroshima lebe, habe ich eins gelernt:
Hiroshima ist Stadt der Erinnerung.

Da gibt es die große, offensichtliche Vergangenheit, die jeder Mensch in der Welt kennt:
Hiroshima ist die Stadt, die von der Atombombe vernichtet wurde.

Alle Menschen hier haben direkt oder indirekt mit der Bombe zu tun. Ich habe bisher keinen getroffen, dessen Familiengeschichte nicht irgendwie damit verbunden ist. Selbst diejenigen, die von außerhalb in die Stadt ziehen, werden mit der Geschichte der Stadt konfrontiert und es verändert sie meistens.

Im Gegensatz zu vielen anderen Städten in Japan, ist in Hiroshima die Geschichte alltäglich. Fast alles erinnert an den Krieg. Selbst die kulturellen Festivals oder Fächer an der Uni haben irgendwie mit der Atombombe und der Last zu tun, die die Menschen von Hiroshima tragen müssen. Die Stadt tut alles, um in der Welt nicht vergessen zu werden. Damit die Opfer nicht vergessen werden. Damit der Schrecken vom Krieg nicht vergessen wird.

Am Anfang dachte ich noch: das alles ist zu viel. Ein Beispiel: Das internationale Filmfestival Hiroshima und das Friedens-Film-Festival finden drei Wochen hintereinander statt, mit einem ähnlichen Fokus, aber komplett seperaten Teams und Budgets. Zwei Festivals mit der gleichen Botschaft. Als außenstehender könnte man meinen, eines reicht.

In Nagasaki, der zweiten Stadt die von der Atombombe getroffen wurde, spricht man weniger gerne oder offen über diese Vergangenheit. Hier in Hiroshima jedoch verbreitet jeder Event die Botschaft von Friede und Erinnerung. Und es funktioniert.

In Deutschland werden von der Vierten Klasse an jedes Jahr in der Schule Nazis behandelt. In Geschichte, Politik, Deutsch, sogar Musik und Kunst. Während meiner Schulzeit ging mir das etwas auf die Nerven. Schon wieder Nazis? Haben wir nicht schon genug Grausamkeiten vom Krieg gelernt?
Dazu noch Besuche von Museen mit den Eltern oder Dokus im Fernsehen (Hitler hat eine größere Medienpräsenz heute als er sich damals je hätte wünschen können).

Mittlerweile habe ich aber wirklich zu schätzen gelernt, wie oft und wie viel man in Deutschland über die Geschichte im 2. Weltkrieg lernt. Gerade im Vergleich mit Japan. Hier ist das kaum ein Thema. Verantwortung für Kriegsverbrechen oder Entschuldigungen für die Sünden der Vergangenheit – das gibt es hier nicht. Viele Japaner wissen auch einfach nicht, was alles passiert ist. Die Schulbücher werden beschönigt und umgeschrieben.

Jede Veranstaltung in Hiroshima hilft, auch wenn sie sich vom Inhalt wiederholen. Jeder Event kämpft gegen das Vergessen. Jeder Anlass zeigt dem Rest von Japan und der Welt: Es gibt uns noch. Vergesst nicht uns und unser Leid.
Gerade wo in Japan nun schon so viel vom Krieg vergessen wurde. Und jedes Jahr werden die Überlebenden, die noch davon erzählen können, weniger.

Nun also der 11. März 2014, drei Jahre nach der Katastrophe:
In der “Stadt der Erinnerung” – wie wird da dem Erdbeben und der Tsunami gedacht?

Bunt.

Ich hatte den Künstler Mirey Hiroki letztes Jahr im November in Hiroshima bei seiner Ausstellung getroffen. Sie war im gleichen Gebäude wie meine Fotoausstellung. Das Künstler-Duo ist renommiert für “seinen kreativen Umgang und Anwendung von Wachsmalkreide und Buntstiften” hieß es in der Broschüre. Wir unterhielten uns damals kurz über das Konzept.

Die Idee für die Schirme entstand in Tokyo. Die Künstler saßen in Shibuya im zweiten Stock vom Starbucks, mit Blick auf die größte Straßenkreuzung der Welt. Bei Grün zappelten hektisch hunderte von weißen und transparenten Schirmen im Regen über die Kreuzung. Es sah so langweilig aus, dachten sie sich. Man müsste es bunt machen.

Zum Konzept gehört allerdngs noch viel mehr, was ich nicht ganz verstand. Die Farben und die Blumensorte haben auch eine Bedeutung, aber dafür reichte mein Wortschatz nicht.
Eine Woche später traf ich den Künstler wieder. Auf dem Internationalen Filmfestival Hiroshima. Er erkannte mich sofort. Ich brauchte etwas, um ihn ohne Brille einem Namen zuzuordnen.

Zum Event jetzt hatte mich eine Bekannte eingeladen, die ich bei der Arbeit für ein Projekt kennen lernte. Sie ist eine faszinierende Person, eine absolute Meisterin im Kontakte knüpfen. Sie kennt die halbe Stadt. Damals stellte sie mich auch gleich Regisseuren, Firmenbossen oder Café-Besitzern vor. Ihre Tochter nimmt sie zu vielen Events mit und gibt ihr eine prima Ausbildung, wie man netzwerkt. Immer höflich sein, immer Geschenke machen.

Mit dem Auto holte sie mich vom Wohnheim in den Bergen ab. Sie stellte es unweit der Schirme ab, im Parkhaus von einem Bekannten von ihr. Der Manager, ein “gruselig aussehender alter Mann”, ist großer Fan vom Manga One Piece. Auf den Parkscheinautomaten standen seine zahllose Figuren.

Um zwei Uhr sollten die Vorbereitungen beginnen. Es waren viele Leute da, die Mehrheit weiblich. Wer sich halt an einem Dienstag Nachmittag frei nehmen konnte.

Die Aufgabe waren simpel: Leuchtstäbe, die aussehen wie Dildos Laserschwerter mit Batterien füllen und mit Tape an die Schirme kleben.

Im Peace Park, mit Blick auf die Ruine vom Atombomben-Dom, gab es natürlich viele Schaulustige, Touristen und Fotografen. Wie Tauben schauten sie oben vom Zaun aufgereiht auf uns hinunter und machten alle die gleichen Bilder.

Ich fragte meine Bekannte, wo die ganzen Fotografen herkommen. Sie meinte, das sind alles Senioren mit zu viel Zeit und zu viel Geld für teure Kameras.
(Ein Dozent an meiner Uni prägte mal den schönen Begriff “Zahnwälte”, für Akademiker, die ihre Freizeit mit teuren Kameras füllen.)

Das Künstler-Duo war nicht vollzählig. Der Kollege saß in Tokyo und beobachtete alles online per Stream. Ich wurde gebeten, auch ein paar Worte in die Webcam zu sagen. Mir fiel aber nix ein, also fotografierte ich einfach Richtung Tokyo.

Häufig mussten wir zwischen den Vorbereitungen und angekündigten Terminen warten. Auch ich habe knapp 20 Schirme beklebt. Aber da wir so viele Helfer waren, entstand ein Leerlauf wo nichts erledigt werden musste. Ich war an dem Tag auch etwas müde und Nichtstun half da nicht. Wir machten kurz eine Teepause in einem Massage-Salon, neben dem Einkaufszentrum. Besitzerin vom Laden und vom Gebäude waren natürlich mit meiner Bekannten befreundet. Auf dem Weg dorthin konnte sie auch zu jedem Laden links und rechts vom Weg etwas erzählen. Fast überall kannte sie die Besitzer oder das Personal.

Gegen 17 Uhr zündete der Verein Christlicher Junger Männer Menschen Hiroshima dann ein paar Kerzen an.

Es wurde “It’s a wonderful World” gesungen und gebetet. “Beten” sollte man hier aber nicht christlich verstehen. Es war mehr als eine Art Gedenkminute gemeint, einen stillen Moment für die Erinnerung. Für die Kameras drehten sich die Schirme dann mal Richtung Atombomben-Dom, nach fünf Minuten Richtung Brücke, und zum Schluss Richtung Zaun.


Der Künstler mit Schirm

Gegen 21 Uhr, es war inzwischen ordentlich frisch geworden, wurden dann die Schirme wieder eingeklappt. Mit knapp 30 Freiwilligen gingen wir dann zu einem nahen Café und entfernten die Dildos Lichtmodule wieder von den Schirmen. Im Mai werden sie wieder in Hiroshima aufgespannt, beim Blumenfestival.

Ich war echt beeindruckt davon, wie viele Helfer sich gefunden hatten. In Hiroshima gibt es einen wirklichen Sinn für Gemeinschaft: Ladenbesitzer, Journalisten, Senioren, Studenten und Mütter – alle kamen zusammen um bei dem Kunstprojekt zu helfen. Aus Tokyo kenne ich so eine Art übergreifende Community nicht – zumindest hab ich es nie so erlebt.

Meine Bekannte stellte mich natürlich auch wieder allen vor. Der Journalist der Chugoku Shimbun war auch mit dabei. Er interviewte mich damals für meine Ausstellung in einem viel zu schnellen Japanisch. Das Interview war auch etwas, dass indirekt durch meine Bekannte zustande kam. Ihn erkannte ich allerdings ebenfalls nicht wieder. Gesichter, von denen ich kein Foto gemacht habe, kann ich mir echt schlecht merken.

Nachdem gegen 22 Uhr alles aufgeräumt war, wollte ich noch etwas essen gehen. Seit einem ungesalzenen Hühnchen aus dem Konbini gegen drei Uhr gab es nichts mehr.
Meine Bekannte bot mir an, mich zu einem Restaurant zu bringen und anschließend nach hause zu fahren. “Weil du Student bist, bezahle ich” sagte sie. Sie wollte in ein italienisches Restaurant. Natürlich arbeitete dort auch ein Freund von ihr.

Der “gruselig aussehende alte Mann” hatte ihr Auto schon vor das Parkhaus gestellt als wir uns auf den Rückweg machten. Auf dem Fahrersitz lag ein Berg Süßigkeiten. Ein Geschenk vom alten Mann. Laut meiner Bekannte war das für mich. Meine Hände konnten kaum die ganze Schokolade, Bonbons aus grünen Tee und Pralinen halten. Einiges rollten unter den Sitz.

Kurz vor 24 Uhr setzte sie mich dann vorm Wohnheim ab. Ich bedankte mich, dass sie extra schnell fuhr. Nach Mitternacht werden die Türen im Wohnheim nämlich abgeschlossen. Sie rief mir noch hinterher: “dann beeil dich, Cinderella!”

In Deutschland wird die Katastrophe vom 11. März 2011 nur auf Fukushima reduziert. Die knapp 18.000 Tote von Erdbeben und Tsunami – oder wie jetzt auch bekannt wurde: die ca. 3.000 Menschen die sich nach der Katastrophe das Leben nahmen oder zu Tode getrunken haben – diese Menschen werden häufig vergessen in Deutschland.

Allerdings war Fukushima bei dieser bunten Gedenkfeier in Hiroshima auch absolut kein Thema.

Japan und Geschichte – das ist oft so einseitig. Auch in einer so offenen Stadt wie Hiroshima.
Aber egal ob nun schlechte Geschichte, gute Geschichte, bunt oder ernst:

Das wichtigste ist nicht zu vergessen.

Tagebuch

Ich hatte eine Ausstellung in Hiroshima.
Eine Ausstellung über fünf Jahre Japan und sechs Monate Hiroshima.

Zeit für Zäsur.

Was braucht man für eine Ausstellung?

– wenig Schlaf
– zahlreiche Helfer
– ein gesprengtes Budget
– viel Tütensuppe, KitKat und Fanta-Weintraube (von mehr hab ich mich vergangene Woche nicht ernährt)

Aber fangen wir von vorne an. Seit meinem letzten Eintrag ist viel Zeit vergangen.

Am Anfang vom Semester an der Hiroshima City University habe ich mir vier Projekte vorgenommen. Eines ist so gut wie fertig, es fehlt nur noch der Schnitt.
Eines ist wahrscheinlich gecancelt, weil japanische Behörden es nicht gerne sehen, wenn ausländische Journalisten über Suizid in diesem Land berichten es etwas kompliziert ist.
Eines ist verschoben auf später, weil es gerade arschkalt ist, weil bereits ein Fotograf aus Deutschland 2013 dort war, weil ich beschäftigt war.
Und ein Projekt wird immer größer, je mehr ich dazu recherchiere.

Dann war ich von Mitte Dezember bis Mitte Januar auf Reisen. Osaka und Kyoto, wo ich bisher nie war. Bei der Gelegenheit habe ich gleich zwei neue Projekte mitgenommen. Dann wieder Tokyo, wo ich Weihnachten und Geburtstag in Kreis von Freunden verbrachte.

Es waren viele alte Freunde in der Stadt, teilweise hatten wir uns seit drei Jahren nicht mehr gesehen. Sicherlich meine größte Geburtstagsfeier seit der 2. Klasse. Sonst feier ich immer klein, weil meine engsten Freunde über den Globus verstreut sind.

In den zwei Wochen in Tokyo habe ich eigentlich fast nur geschlafen. Ich war irgendwie nur kaputt. Mein Körper wird schon wissen, warum er Ruhe braucht. Und ich bin wahrscheinlich der einzige in der Welt, der nach Tokyo fährt, um Ruhe zu finden. Aber es ist schließlich ein Zuhause.

Viel ist passiert. Ich hab auch einen Bart gewachsen und dann wieder abrasiert weil andere Leute mich dazu drängten weil er immer im Reissverschluss meiner Jacke steckenblieb weil man in Japan nicht auf Bärte steht.

Kaum war ich wieder rasiert in Hiroshima, hieß es auch schon Ausstellung. Mein Dozent sagte mir bei einem Treffen ständig hayaku – beeil dich. Das war allerdings nicht sein eigenes Motto, denn zu unserem Treffen kam er drei Stunden zu spät.

Fotojournalismus-Studenten aus Hannover haben in Hiroshima im Rahmen unseres Stipendiums relativ freie Hand. Wir müssen keine Kurse besuchen, sondern können frei an unseren Projekten irgendwo in Japan arbeiten. Am Ende des Semesters haben wir dann eine Ausstellung, wo wir unser Projekt zeigen sollen. Eigentlich.

Ich hatte aber nun wieder vergessen, wie zäh und langwierig manche Prozesse in Japan sein können. Teilweise musste ich Wochen warten, bis die Zu- oder Absage für ein Projekt kam. Oft wurde ich auch hingehalten. Dann tauchte aber auch wieder ein neuer Dreh zur Geschichte auf, der sich am Anfang gar nicht ergab.
Kurzum, keines meiner Projekte war fertig, als die Ausstellung geplant werden sollte. Was nun.

Die Idee einer Ausstellung mit meinen Japan-Bildern hatte ich schon, seitdem ich das erste Mal das Land verlassen hatte. Es gab dann hier und da ein paar Ansätze in Deutschland, aber alles verlief irgendwie im Sande.

Das jetzt hier war meine erste eigene Ausstellung. Ich wollte die Gelegenheit also nutzen, endlich die Bilder zeigen zu können, die ich schon länger mal zeigen wollte.

Von der Uni gab es dafür 30.000 Yen und einen Raum in der Alten Bank von Japan, deren Japanischer Name auszusprechen mir wohl nie gelingen wird.

Am 6. August 1945 hat die Druckwelle der Atombombe das Dach der Bank aufgesprengt und die Tür vom Tresor verbogen. Am 8. August nahm die Bank wieder ihren Betrieb auf. Ohne Dach. An Regentagen standen die Angestellten mit Regenschirm am Schalter.

Heute ist die Bank eine öffentliche Galerie und Raum für Künstler. Der Eintritt ist stets frei, das Programm wechselt teilweise jede Woche. Manchmal sind echt sehr gute Ausstellungen dabei, wie von Chim↑Pom im Dezember oder von einem Mann, der den Saal mit hunderten bunter Regenschirm füllte.

Vergangene Woche lief gleichzeitig mit meiner eine Ausstellung vom Fotoladen Saeda. Der ist keine 500 Meter entfernt, auf der anderen Straßenseite.
Saeda hatte einen Foto-Wettbewerb unter seinen Kunden ausgerufen, die zahllosen Bilder waren alle recht trivial. Katzen, Kinder, Sonnenuntergänge. Das Übliche eben. Aber es zog sicherlich viele foto-affine Leute an, die dann sich teilweise auch auf den Weg zu mir in den 3. Stock machten.

Ich hatte lange überlegt, welche Bilder ich denn nun zeige. Was kann die Leute in Hiroshima interessieren? Was möchte ich zeigen?

Schließlich brachte mich dann eine japanische Studentin auf die Idee: Mach es doch wie in deinem Blog. Kleine Geschichten mit Text und vielen Bildern.

So hatte ich dann in der Ausstellung Fukushima neben Bands aus Tokyo, Nagasaki an der Wand und meine größte Geschichte direkt neben dem Cover eines Magazins.

An den Wänden hatte ich Einzelaufnahmen aus Tokyo, Hiroshima und dem Rest von Japan, die ohne Kontext funktionierten.


(c) Kiên Hoang Le

Zusätzlich hatte ich noch zehn danboru. Das sind selbststehende Pappwände, auf denen ich die einzelnen Geschichten erzählen und viele Bilder anbringen konnte.

Der Grund, warum ich so viele kleine Bilder hatte, ist simpel: Mein gesamtes Foto-Archiv ist in Berlin. In Japan hatte ich nur kleine Dateien dabei, oder nur die Fotos in geringer Auflösung online im Blog. Große Sprünge Drucke konnte ich damit nicht machen. Daher war mein Motto auch ganz klar: Quantität vor Qualität.

Während wir in der Bank noch klebten, kamen schon ungeduldige Besucher. Alle alt, alle männlich, alle mürrisch. Wir sollten uns doch mal beeilen, sagten sie.
Einer fragte mich auch, ob ich die Kirschblüten in Fukushima gesehen hätte. Die seien wunderschön, sagte er. Sicherlich sind sie das. Sie leuchten bestimmt auch im Dunkeln.

Wir haben insgesamt drei Tage in der Bank gebraucht, um alles anzubringen. Davor halt eine Woche in der Uni. Drucken, Schneiden, Kleben. Zum Glück hatten wir viele willige Japanerinnen freundliche Helfer, die uns unterstützten.

Es ist ordentlich viel schief gegangen. Blasen auf dem Papier beim Anbringen auf den Klebeplatten. Verschnitt und Kratzer. Dann fiel der Drucker aus, Tinte war alle oder die große Rolle Glanzpapier war aufgebraucht. Die Uni war dann auch eine ganze Woche geschlossen, wegen der Examenszeit, also konnte ich nicht drucken.
Shouganai war oft das Wort des Tages. Shouganai – da kann man nix machen, ist halt so. Ich hatte zeitweise überlegt, die Ausstellung umzubenennen. Shouganai Japan.

Der Titel stammt von meinem Kommilitonen, der seine Fotoausstellung eine Woche vor mir hatte. Ursprünglich war angedacht, dass wir eine zusammen machen. Aber da ich etwas beschäftigt war und er reisen wollte, haben wir es verschoben. Das hatte natürlich auch zur Folge, dass wir unser Budget von der Uni gesplittet haben. Aber dafür hatte ich dann den großen Raum für mich alleine. Auch nicht verkehrt, da sich unsere Fotografie stark unterscheidet.

Er wählte “Nihon Nikki”, was “Japan Tagebuch” auf Japanisch heißt. Ich fand das ganz passend, für meine Bilder ohne Zusammenhang. Auch wenn es Schlussendlich einfach eine Ausstellung meiner Arbeit in Japan wurde.
Ich wählte das deutsche “Tagebuch Japan”, weil Japaner deutsche Worte zu lieben scheinen. Auf vielen Produkten, insbesondere aus dem Schul- und Büro-Bereich, findet man sie aufgedruckt.

Das Poster wurde mehrmals überarbeitet. Mal gefiel es mir nicht, mal nicht dem Sensei. Und dann kam Yuki, deren Poster-Designs regelmäßig Preise gewinnen und die, so viel habe ich bisher hier gelernt, mit Abstand beste Designerin an der Uni ist.
Das finale Design fand ich zwar etwas merkwürdig. Aber sie meinte, Japanern gefällts.

Die Bank liegt auf der Hondori, eine der belebtesten Straßen in Hiroshima. Hier ist der Sitz von NHK und zwei Einkaufsstraßen kreuzen. Es ist ein Verkehrsknotenpunkt, der Busbahnhof liegt hier und am anderen Ende ist der Atombomben-Dom. Prima Lage.

Am Tag der Eröffnung stellte ich das Schild mit dem Poster ganz weit vor die Tür auf die Straße. Das soll man zwar eigentlich nicht, aber es zieht Leute an.
Ich blieb kurz einen Moment stehen und beobachtete die Straße. Eine Dame hastete in schnellen Schritten an der Bank vorbei, Richtung Straßenbahn. Im Augenwinkel sah sie mein Poster und wurde langsamer. Zögerlich ging sie auf das Schild zu. Sie blieb davor stehen, betrachte es genauer für eine halbe Minute – und ging dann an mir vorbei die Treppe hoch.

Yuki hatte Recht. Japaner mögen das Design.

In der Bank wurden Dezember 2012 schon einmal vier Fotos von mir ausgestellt, als Teil einer Ausstellung von Yuki, die ich damals im Sommer in Hannover traf.
Ich mag den Ort. Man sieht die Geschichte in jeder Ecke. Ursprünglich wollte ich auch die Ausstellung im ehemaligen Tresorraum machen. Der hat nämlich nur einen Ausgang – eine Zweitonnen-Stahltür, verbogen durch eine Atombombe. Interessant beklemmendes Gefühl in dem Raum.

Zur Vernissage hatte ich einen kleinen Filmabend organisiert, bei dem ich meine Multimedia-Arbeiten aus Deutschland und Japan zeigte. Ursprünglich sollte es die Premiere vom fertigen Film eines meiner Projekte sein. Es war aber einfach nicht mehr drin, den noch rechtzeitig zufriedenstellend fertig zu bekommen. Ich hatte es auch nicht mehr geschafft, Japanische Untertitel für meine anderen Filme zu machen.

Deswegen haben die Filme auch nicht so funktioniert, wie ich mir das erhofft hatte. Aber die Bilder haben gefallen.


(c) Kiên Hoang Le

Gesamt kann ich zufrieden sein. Ich war nicht jeden Tag in der Ausstellung, aber ab und an, um nach den Bildern zu sehen. Die sind nämlich nicht bombenfest an die Wand angebracht fallen nämlich gerne mal runter, weil sich das billige Tape löst. Aber jedes Mal war der Raum gefüllt.
Auf Twitter ging die Ausstellung nach einer Meldung in diversen Medien auch ordentlich ab.

Durch die Ausstellungen, die zuvor in diesem Raum waren, bin ich immer schnell durchgesaust. Die Bilder ließen sich all zu oft zu leicht erfassen oder waren einfach langweilig. Mir war es daher wichtig, eine längere Verweildauer bei den Leuten zu erreichen. Daher variierte ich die Größe der Bilder, sodass man seine Position beim Betrachten ständig wechseln muss. Auch die Texte und kleinen Fotos sorgen dafür, dass man etwas länger bleibt.

Ich habe keine genauen Zahlen, wie viele sich jetzt die Ausstellung angesehen haben. Aber 1.000, 2.000 Leute? Bestimmt.

Ich hatte bei meinen bisherigen Reisen nach Hiroshima schon gut Kontakte sammeln können, von denen ich jetzt natürlich sehr profitierte. Zwei Kontakte sind da besonders zu erwähnen.

Bei der Filmkommission Hiroshima arbeitet jemand, der alle ausländischen Medienvertreter in Hiroshima betreut. Wenn die BBC, das ZDF oder der Spiegel etwas über Hiroshima bringen, haben sie mit ihr gesprochen.
Die Dame kenn ich seit 2009, sie ist inzwischen eine gute Freundin und eine wichtige Vertrauensperson in Hiroshima geworden. Durch sie lernte ich auch eine weitere Dame kennen, eine erfolgreiche Netzwerkerin. Ich traf sie bei einem Filmfestival, wo sie mich gleich unaufgefordert vielen Leuten vorstellte: Der Hiroshima Chef von Mazda, Regisseure, Künstler. In unserem ersten Gespräch erwähnte ich im Nebensatz, dass ich deutsches Brot vermisse. Eine Stunde später überreichte mir jemand ein Paket von der (teuren) dänischen Bäckerei ein paar Straßen weiter. Ein Geschenk von ihr.
Sie war bei der Vernissage dabei und berichtete darüber auf Facebook. Und zack, 97 Likes.

Ich war im International Conference Center Hiroshima (direkt neben dem Atombomben-Museum) um mein Poster aufzuhängen. Nach dem bürokratischen Geplänkel (Wer? Was? Wie lange?) überreichte ich ihr endlich mein Poster. Die Reaktion: “Oh, das Foto kenn ich. Ich hab es auf Facebook gesehen!”
Einer meiner beiden Kontakte muss es geteilt haben.
Ich habe das Gefühl, allein durch diese beiden Damen, hat man Zugang zur ganzen Stadt.

Insgesamt zeigte ich Fotografien von 2009 bis 2014. Fünf Jahre Japan. Ich war selbst etwas erstaunt darüber. Es scheint fast so, als hätte ich den fünf Jahren nix anderes gemacht.
Und es scheint fast so, als habe ich den letzten fünf Jahren nix anderes gemacht, als die gleichen Bilder zu recyclen.

Die Bilder sind bekannt. Sie sind auf meiner Homepage, sie sind in meinen Büchern. Sie sind nicht neu.
Ich kenne genug Fotografen, die von ihrem Archiv leben. Die in Ausstellungen die immer gleichen Bilder zeigen. Die ähnlich wie Musiker in stets neuen “Best Of”-Alben ihr altes Material neu verpacken. Und eigentlich nervt mich das.

Am spannendsten für mich in der Fotografie, ist das Machen. Alles, was danach kommt, empfind ich eher als lästig. Von daher bin ich auch gerade viel am Reisen, Fotografieren, Recherchieren. Machen.
Das Zusammentragen, Editieren, Aussortieren – davor drück ich mich eher. Es gibt doch noch so viel, was man Fotografieren kann. Warum muss ich dann drinnen vorm Rechner hocken und Pixel schieben?

Jedoch will ich das jetzt mal angehen, diesen Monat. Nicht Reisen, sondern hier bleiben. Spart Geld. Und ich verliere nicht den Überblick darüber, was ich schon alles fotografiert habe. Ich kann überlegt neue Bilder angehen.

Ein Semester ist vorbei. Das Stipendium ist aus. Trotzdem habe ich mich entschlossen, bis zum Sommer zu bleiben. Nicht nur wegen meiner anderen Projekte. Sondern wegen einem Projekt.

Wegen dem Projekt kam ich auch mit der Ausstellung in die Zeitung.

Es geht um Gas, 2. Weltkrieg und ein dunkles Kapitel von Hiroshima. Seit Oktober recherchiere ich daran und es wird größer und tiefer, je mehr Leute ich dazu interviewe.
Das Ziel ist ein 10-15 Minuten langer Dokumentarfilm. Eventuell wird die Geschichte auch mein nächstes Buch. Es ist auf jeden Fall groß, spannend und hat alles, was man sich als junger Journalist von einer Geschichte wünschen kann.


Im November war ich bereits sechs Sekunden lang auf NHK zu sehen, aber in einem anderen Zusammenhang. Mit der Dame von NHK, die mir die Fragen stellte, war ich eine Woche später Kaffee trinken. Intelligente Frau, auch wenn sie vor der Kamera nur lieb lächeln soll und nie ihre Talente zeigen darf.

Nach der Chugoku Shimbun sind jetzt auch anderen Medien aufmerksam geworden. Die Zeitung Mainichi und zwei Leute vom Sender NHK wollen mich zu meinem Projekt befragen – selbst wenn es noch nicht mal annäherend fertig ist.

Das Projekt ist mir wichtig. Wegen dem Projekt will ich weiter in Hiroshima bleiben. Das Geld wird zwar ab jetzt etwas knapper sein. Aber das ist nicht wichtig.
Wichtig ist nur, was ich jetzt erreichen kann. Und das verspricht viel zu sein.