Wurst oder Wohnung

Zwei Tage WG-Besichtigung in Hannover. Irgendwo zwischen Blinddating und Casting suchten Wohngemeinschaften einen neuen Mitbewohner. Ein subjektiver Bericht.

(Veröffentlicht in der Berliner Zeitung vom 26.09.2011)

In Deutschland habe ich noch nie in einer WG gewohnt. In Tokyo teilte ich Wohnung bzw. Wohnhaus mit anderen. Nie gab es Probleme. In Japan musste ich nur den Vermieter mit finanzieller Liquidität überzeugen, doch in Deutschland steht vor dem Einzug in eine Wohngemeinschaft ein Vorstellungsgespräch vor dem WG-Rat. Es wird geprüft, ob man nett und interessant genug für den Einzug ist. Irgendwo zwischen Bewerbungsgespräch und Casting des neuen Freundeskreis finden dann diese Treffen statt.

Ich bin, was Wohnen angeht, super anspruchslos. In Tokyo war ich glücklich auf vier Quadratmetern ohne Fenster. Ich brauche nicht viel. Eine Matratze, einen Tisch und ich war zufrieden. Diese Anspruchslosigkeit konnten viele nicht nachvollziehen, ja es machte sie sogar skeptisch, als ob ich das nur erzählen würde, um das Zimmer zu bekommen. Doch ich brauchte wirklich nicht mehr.

Von daher waren meine Kriterien an die WGs relativ gering. Die Kriterien der WGs an mich aber scheinbar hoch. “Die Chemie muss ja stimmen” und “man sollte schon ähnliche Interessen haben”. Mir war da relativ vieles egal. Ich denke in meiner Zeit in Japan habe ich eine gewisse Zurückhaltung gelernt, den man anderen entgegen bringt, mit denen man auf engen Raum zusammenlebt.

Wenn ich dann von meiner Wohnung in Tokyo erzählte, wurde ich natürlich auch zu meiner Zeit dort befragt. Ich berichtete gerne und viel darüber. Fast zu viel. Als ob diese Zeit, dieses eine Jahr, das einzige ist, was mich auszeichnet und von anderen Bewerber unterscheidet. Nichtsdestotrotz war es natürlich das spannendste, was ich zu erzählen hatte und daher brachte ich es natürlich immer gleich zu Beginn der Gespräche ein.

Die Fahrt

Im Westen von Berlin holte mich ein Kleinlaster mit 15min Verspätung ab. Knapp begrüßte mich der Fahrer der Mitfahrgelegenheit und schmiss meine Tasche in den Laderaum.
Er ist Transportunternehmer und macht jeden Tag den Trip nach Hannover um Autoteile abzuholen. Hin und zurück dauern mit Pause und Aufladen sechs Stunden, die sich die großen Autohäuser gerne etwas kosten lassen. Meine Frage, ob denn eine Sammelbestellung einmal in der Woche in einem großen LKW statt täglichen Touren in einem Kleinlaster denn nicht sinnvoller seien, schmetterte der Fahrer etwas angekratzt ab. Man könne ja heute nicht wissen, welche Bauteile man morgen braucht, sagte er, und starrte fest auf die Autobahn vor sich. Das ich so in der Frage gewissermaßen auch seinen Job für sinnfrei erklärte, fiel mir erst auf, als ich ausstieg.
Neben mir saß die zweite Mitfahrerin, eine selbstständige Nageldesignerin. Mit großen, aufgeklebten Fingernägel tippte sie auf ihrem Netbook. Ihr dickes Make-Up spiegelte sich dabei im Display. Viel zu sagen hatte sie nicht.

Die Fahrt war zügig und still. Die beiden hatten keine Interesse an dem, was ich erzählte und auch sonst hatten wir keine Schnittmengen. Bis dann das Thema Wohnungssuche in Hannover aufkam und ich lauter Tipps für gute Straßen bekam. Merken konnte ich mir keine.

Die erste WG – ein Traum in weiß

Ein quirliges Mädchen begrüßte mich mit einem Lächeln im Treppenhaus. Ihr Mitbewohner stand etwas müde im Flur und zeigte mir sein helles Zimmer, das bald frei werden sollte. Es sah gut aus, die Mitbewohner waren sympathisch und die Lage war bezahlbar. Das Gespräch lief gut, auch wenn ich viel zu viel erzählte.
Sie studiert an der Tiermedizinischen Hochschule, oder “Tiho” wie die coolen Kids in Hannver sagen. Der Antwort auf die Frage nach ihrer Heimat stellte sie schon ein “kennste nich” voran, bevor sie eine Liste von mir unbekannten Dörfern und Kleinstädten nannte, die jeweils mit “in der Nähe von” verbunden waren.
Er ist grad in der Wirtschaft, will aber demnächst zur Polizei. So ganz enthusiastisch sprach er über keins von beiden. Nur als es darum ging aus Hannover weg zu ziehen zeigte sich eine gewisse Passion. Ich konnte es nachvollziehen.
Der dritte im Bunde war nicht da. Er ist in der Werbung, meistens bei seiner Freundin und sowieso “mehr für sich”.

Rückblickend muss ich sagen, dass diese erste WG-Besichtigung am besten lief und mir am meisten gefiel.

Die zweite WG – wir casten einen neuen Freund

Die zweite Besichtigung war zunächst schwierig. Als ich durch die Tür kam standen dort gleich drei der vier Bewohner vor mir und streckten mir die Hände zur Begrüßung hin. Alle kannten sich schon länger und bildeten mehr oder weniger den gemeinsamen Freundeskreis. Als externe Partei war es für mich schwierig dort Zugang zu finden, aber das war ihnen auch bewusst und sie gaben sich Mühe, mich zu integrieren.

Die Dame in der Runde hatte das Zimmer zu vergeben. Ende 20, Gelegenheitsmodel und selbstbewusst, aber ohne arrogant zu sein. Bescheiden und bestimmt erzählte sie von ihren Shootings. Sie hatte ein großes Bierglas vor sich und fragte mich, wie ich es denn mit dem Alkohol halte. Wenig, sagte ich, und zweifelnde Blicke gingen über das Glas zu ihrem Mitbewohner.

Sie geht jetzt für ein halbes Jahr ins Ausland und ihr Mitbewohner ebenso. Die, die bleiben, waren entweder im Urlaub oder gerade durch die Tür. Es war schwierig ein Gespräch mit denen zu führen, die dann eh nicht mehr die Mitbewohner sein würden. Trotzdem merkte ich, dass wir wenig Gemeinsamkeiten hatten. Zimmer und Lage waren okay.

Rückblickend muss ich aber sagen, dass das Gespräch hier gut lief, auch wenn ich währrenddessen einen anderen Eindruck hatte. Es lief fließend, wir scherzten. Wie in einem Bewerbungsgespräch hinterließ ich meine Kontaktdaten. Man meldet sich dann.

Die Kameratasche

Noch auf dem Weg nach Hannover bekam ich am Morgen einen Anruf. Es war ein Fotostudent von der FH Hannover, den ich noch nie im Leben traf, aber der in meiner Facebook-Liste ist. Er ist gerade in Berlin, hat aber nächste Woche einen Auftrag in Österreich und seine gesamte Ausrüstung ist noch in Hannover. Verschicken kann er das Equipment im Wert von mehreren tausend Euro nicht.
“Fritz, du kommst doch wieder nach Berlin, ne? Ich brauch jemanden, der mir meine Ausrüstung bringen kann, den ich kenne und vertraue. Naja, ich kenn dich jetzt zwar auch nicht, aber ich vertrau dir da mal.”
Ich zögerte, aber er drängte. Also sagte ich zu. Die Ausrüstung würde mir sein Mitbewohner im Laufe des Tages vorbeibringen.

Es folgten über den Tag verteilt noch mehrere Anrufe, die im Ton immer drängender wurden und mich gegen Ende hin auch kurz des Diebstahls bezichtigten. Kurz vor Mitternacht kam die Tasche und ich nahm sie an.

Der Überbringer und seine Begleitung waren sehr amüsiert von der Geschichte. Unverständnis gab es auch bei dem Freund bei dem ich übernachtete. Die, laut Anruf, “normale, kleine Kameratasche”, wog sieben Kilo und schnitt sich mit dem Gurt in meinen Rücken.

Bis es spät wurde und alle Mitbewohner der WG, wo ich die Nacht verbrachte, im Bett waren, diskutierten wir noch laut über Fotos. Im Zimmer einer Mitbewohnerin, die im Urlaub war, pennte ich zwischen Klavier und Gewitter dann ganz gut.

Ein Hipster in Hannover

Als ich am Tag zuvor nach Hannover fuhr, hatte ich nur die zwei Besichtigungstermine. Der nächste kam spontan am nächsten Morgen per Email. Vorher telefonierte ich mir eine Heimreise für den Abend und fuhr mit meinem Gastgeber zur Uni Hannover, um die Architektur-Projekte einer Mitbewohnerin zu fotografieren.

Ich wollte die Gelegenheit glech mal nutzen, um meine neue analoge Kamera auszuprobieren. Wie bei einem echten Tourist Hipster baumelte die 40 jahre alte Kamera aus Metall um meinen Hals. Meine Beobachtung vom Vortag, dass Hannover relativ frei von Hipstern ist, wurde nun von mir selbst zunichte gemacht.

Mein Freund zeigte mir dabei die Stadt. Die Prachtmeile von Hannover, die Limmerstraße, begann mit höflichen Punks, füllte sich mit Imbissen und Restaurants, und endete mit billigen Geschäften. “Mehr geht nicht in Hannover, bunter als hier wirds nicht” sagte mein Freund und ich war nicht sonderlich traurig, nur einen schwarz/weiss Film in der Kamera zu haben.

Konstruktionen für die Kamera

Im Innenhof der Fakultät für Architektur waren die Konstruktionen ausgestellt. Versteckt oder dominant sollten sie dem grauen Hinterhof Akzente verleihen. An einigen Ecken wurde noch geschraubt und geklebt.

Nach den anstrengenden WG-Terminen, wo alles was du sagst und tust in deine Bewertung in die Auswahl um das Zimmer mit einfließt, waren die Architekten echt eine entspannte Abwechslung. Wenn ich sie ansprach, kam ein Lächeln zurück. Sie erzählten gerne von ihren Projekten. Der Professor war auch ganz entzückt über uns zwei Fotografen und er nahm sich viel Zeit mir den Gedanken hinter den einzelnen Exponaten zu erzählen.

Meine alte analoge Kamera ist seit dem Nahen Osten kaputt, einen Film hatte ich mit der neuen noch nicht voll gemacht. Ich hatte zwar mal einen drin, doch der war komplett unbelichtet. In Hannover hatte ich nun einen schwarz/weiss Film und Farbfilm dabei. Ich verschätzte mich aber grob mit ISO und Belichtungszeit, sodass die Bilder jetzt so unrein aussehen.

Über den Innenhof verteilt waren große und kleine Konstruktionen aus Holz, Pappe und sogar Tetra-Pak.

Der Großteil der Architektur-Studenten war weiblich. Die wenigen Kerle waren dabei alle breit gebaut – und mürrisch auf uns Fotografen zu sprechen.

Die dritte WG – Sportler und ihre Hobbys

In angesagter Lage, wie man mir sagte, befand sich die dritte Wohngemeinschaft in Laufweite von der Bude meines Kumpels. Ich war zu früh dran und betrat die Wohnung als noch eine weitere Interessentin zugange war. Sie war Journalismusstudentin aus München, die das Studium der praktischen Arbeit vorzog. Die Bewohner waren zwei Sportler und ein Sozialwissenschaftler. Das Zimmer war klein aber gemütlich, inklusive eines begehbaren Vordachs unter dem ein gemütlicher Garten lag.

Relativ unbeeindruckt von meinen Reisen und Referenzen fragte mich die Dame in der Runde, ihreszeichens braungebrannte Sportstudentin mit Nebenjob im Freibad, nach meinem Hobbys. Ich schluckte.
Das Problem daran, wenn man sein Hobby und das, was man gerne macht zum Beruf macht, ist, dass man gleichzeitig ein Hobby aufgibt. Als Freiberufler/Selbstständiger hat man eh auch weniger Zeit für Hobbys. Ich sagte schnell noch den einzigen Sport, den ich tatsächlich sehr gerne ausübe (“Fahrrad fahren”), doch mit Blick auf meine Wampe kauften sie mir das wohl nicht ab.

Beim stockenden Gespräch in der Küche disqualifizierte ich mich, als ich, wie Berliner das gern mal so machen, über andere & kleinere Städte lästerte. In diesem Falle Hannover, der Geburtsstadt von 2/3 der WG. Nicht viel später folgte ein “du hörst von uns” und ich ging durch die Tür.

Die vierte WG – Journalisten und das Steak-Verbot

Der letzte Termin kam kurzfristig rein und musste ebenso schnell erledigt werden da mein Auto nach Berlin bald folgen sollte. Ebenfalls in guter Lage und mit tollen Zimmern war es eine WG von Journalisten, die entweder noch im Studium oder kurz vorm Ende und schon im Beruf drin steckten. Print, Fernsehen und Radio waren vertreten.
Erst im Nachhinein realisierte ich, wie anti die Bewohner mir gegenüber eingestellt waren. Erst dachte ich, es lag daran, was ich sagte oder nicht sagte. Doch dann fiel mir auf, dass es daran lag, was ich war.

Journalisten sind privat das, was sie im Beruf sein müssen: betont selbstbewusst, ehrgeizig und direkt. Und bei der Besichtigung waren sie zudem noch hektisch, gestresst und schnell. Für sie war ich erstmal nur ein Konkurrent in ihrer Branche.

Innerhalb von 10min trafen fast alle Bewohner der WG ein. Die Damen nahmen mich ins Kreuzverhör während der Kerl sich eine Zucchini schnitt und in die Pfanne warf.

“Ich bin Fotograf, schreibe aber auch”, sagte ich in der Vorstellungsrunde. Der Autor aus dem Printjournalismus quittierte es nur mit einem “Ach!” als er sich die Zuchhini brutzelte. Seine Zweifel daran, dass dieser Knipser nun auch noch schreibt und in sein Berufsfeld eingreift, war über dem heissen Öl laut zu hören. Als ich ihm sagte, dass ich Fotojournalismus an der FH studiere, nötigte ihm das aber einen gewissen Respekt ab. “Die sind krass”, sagte er.

Mittendrin kam eine SMS. Die Mitfahrgelegenheit, die mich in 50min im Norden der Stadt abholen sollte und nachhause fährt, hat spontan abgesagt. Der Autor fühlte mit mir und stellte seinen Rechner zur Verfügung, damit ich eine neue Mitfahrgelegenheit suchen konnte. Während er das Passwort eintippte wischte er eine wilde Ansammlung von Pillen von der Tastatur. Ich fragte nicht, aber man sagte mir, dass die von dem Mitbewohner stammten, der gerade nicht da ist. “Er arbeitet in einer Psychatrie und kommt daher günstig an Pillen” erklärte mir die Fernsehjournalistin. “Aber nicht die Art Pillen an die du jetzt denkst” fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu und kaute weiter auf ihrer Möhre herum.
Sie kam gerade von einem Dreh und reagierte am aufgeschlossensten auf mich. Allerdings verabschiedete sie sich kurz und musste weg. Es folgten provozierende Fragen mit verschränkten Armen von den anderen. Es wurde meine Qualität als Journalist geprüft, ich hatte aber nicht das Bedürfnis ihnen jetzt hier etwas demonstrieren zu müssen.

Ich erzählte was ich suchte und die Antwort war nur ein ablehnendes “das klingt aber nach Zweck-WG”. Der Zweck einer WG ist es, ein Zimmer zu haben und mit anderen zusammen zu wohnen. Das suchte ich. Woher die Erwartungshaltung kommt, mit dem neuen Mitbewohner gleich den neuen besten Freund zu suchen, ist mir ein Rätsel.

Doch die entscheidene Frage war: “Bist du Vegetarier?”. Nein, sagte ich. “Wir sind aber alle Vegetarier, weil wir für die Welt sind”. Berechtigte Begründung, wenngleich auch eine WG in Hannover mit dem Braten von Zucchini sicherlich nicht “die Welt” retten wird, was immer damit gemeint war. “Heisst das, dass ich keine Wurst im Kühlschrank haben kann, selbst wenn ich sie in meinem Zimmer esse?”, fragte ich. Der Blick ging zur Zucchini und wieder zurück zu mir. Nein, war die kollektive Antwort. “Ich müsste mich also zwischen Steak und dieser Wohnung entscheiden, da ihr keine Nicht-Vegeterier akzeptiert?”. Sie nickten und ich ging zur Tür.

Ich kann ihre Lebenseinstellung nachvollziehen, sie aber für mich selbst nur wegen einer Wohnung anzunehmen halte ich für verkehrt. Und dogmatisch Nicht-Vegetarier auszuschließen sprach auch nicht grade für eine allgemeine Toleranz. Ohne viele Worte wurde mir zum Abschied gewunken. Im Treppenhaus traf ich dann noch die Fernsehjournalistin wieder. Sie war irritiert, dass ich so schnell wieder ging.

Heimfahrt

Kurzfristig fand ich noch eine andere Mitfahrgelegenheit nach Berlin, am selben Treffpunkt und zur selben Zeit. Mit schwerer Kameratasche und meinem Kram über der Schulter hetzte ich in den Norden der Stadt. Gerade noch pünktlich – allerdings am falschen Treffpunkt. Der Fahrer ließ noch mit sich reden, drehte um und sammelte mich ein.

Im Auto lief Deathmetal als ich mich dem Polizisten vorstellte. Er ist vor kurzem von Hannover nach Berlin gezogen und fährt regelmäßig diese Strecke. Kurzfristig stellt er dann immer die Mitfahrgelegenheit online und fährt damit selten alleine.
Ob es als Polizist denn nicht frustrierend sein kann fragte ich ihn. Joa, sagte er. Aber die Motivation ist doch noch da, fragte ich. Joa, sagte er. Er war absolut entspannt.
Zwischen den Frust im Alltag hat er sich mit den begrenzten Möglichkeiten des Jobs abgefunden. Wie ein buddhistischer Mönch saß er hinter dem Lenkrad. Er akzeptierte “es ist wie es ist” und machte damit einen zufriedenen Eindruck.

Neben ihm saß ein Blondine in meinem Alter. Sie hatte gerade ihr Studium abgebrochen. Nicht ihr erstes. Von der Abbrecherin zum Aufbrecher wollte sie nun demnächst in eine lange Reise starten. Wann weiss sie noch nicht. Sie macht sich da keinen Druck. Ihre Eltern machen auch keinen, den machten sie noch nie. Weder bei der abgebrochen Ausbildung noch beim vorzeitigen Beenden des Studiums. Nur sie machte Druck – ob wir denn nicht mal für eine Zigarette anhalten könnten.

Nach der Kippe kamen die Blitze. Ein Regensturm und Gewitter hing tief über der Autobahn. Links und rechts der Fahrbahn leuchtete es kurz taghell. Auf der anderen Fahrbahn zogen die Autos einen feinen Nebel von aufgewirbelten Regen hinter sich her. Die Scheinwerfer machten aus dem Nebel kleine leuchtende Geister. Als ich den Fahrer auf dieses interessante Phänomen hinwies meinte der Beamte nur trocken, dass er lieber auf die Straße vor sich achtet. Inzwischen liefen die Beatsteaks in einer Dauerschleife. Die Blondine schlief.

Ankunft

Sicher vor dem Regen stand ich in Berlin nach dem Aussteigen an der Haltestelle. Da ich nie Bahn oder Bus fahre, fragte ich den großen Kerl neben mir, wie weit der Bus denn nun fährt. Er war Grieche und auch als ich auf sein Bitten hin auf Englisch fragte, wusste er es nicht. Ich erzählte ihm, dass ich grad aus Hannover komme und wie das deutsche WG-System funktioniert. Er fand es seltsam, wünschte mir aber viel Glück als er in seinen Bus stieg.

Als mein Bus endlich kam stiegen mehrere Akademiker Mitte 30 ein. Angeheitert beendet sie ihren Berlin-Besuch, während eine von ihnen von ihrer Zeit in der Hauptstadt erzählte. Erst wohnte sie im Prenzlauer Berg, nun gentrifiziert sie aktiv Neukölln. Ihr angeheiterter Kollege war ganz entzückt davon, dass Schönhauser Allee ja fast wie Schöneberg klingt, wo sie gerade hinwollen. Seine blondierte Freundin lächelte darüber nur müde. Ein weiter Herr im Bunde versuchte dann die Damen, die sonst wissenschaftlich tätig sind, zu überzeugen, dass der Bus eine Distanz von 4 Kilometern in drei Minuten zurücklegen könnte. Ich lächelte müde und ging die Liste von Substanzen durch, die er vermutlich intus hatte.

Nun gibt es zwei Dinge von denen man sagt, dass Berliner sie nicht mögen: Nicht-Berliner und Nicht-Berliner, die nach Berlin ziehen. Die Gemeinschaft vor mir gehörte dazu.
Mit Bussi Bussi verabschiedeten sich, bis nur noch der leicht angeheiterte Herr und seine blondierte Freundin übrig waren. Kurz vor meiner Station stiegen sie aus und Blondi lief danach direkt noch vor den Bus. Ihr Kerl küsste sie zur Wiedergutmachung fest. Ich war alleine im Bus.

Eine Reise von zwei Tagen und durch mehrere Wohnungen endete nun in meiner eigenen. In wenigen Tagen bin ich in Tokyo, dachte ich, als ich den Schlüssel drehte.
Zuhause.

365 Tage Reflektion

Vor zwei Jahren flog ich nach Tokyo. Ich recherchierte große Geschichten und fotografierte interessante Kleinigkeiten. Vor einem Jahr kam ich zurück nach Berlin. Bilanz eines Heimkehrers.

Im Juli 2009 ging ein lang gehegter Traum in Erfüllung: eine Reise nach Japan. Ursprünglich war nichts geplant. Aus Wochen und Monaten wurden ein ganzes Jahr. Und heute, vor genau einem Jahr, war die Reise vorbei. Seitdem war ich wieder in Berlin und, wenn ich ehrlich bin, wollte ich in der ganzen Zeit nichts sehnlicher als wieder weg.

Die ersten Wochen waren sicherlich nett. Es gab Brot, alte Freunde und Hausmannskost. Doch irgendwann ist man von all dem auch wieder satt. Es kommt die Frage auf: Was nun?

In Tokyo hatte ich eine berufliche Erfüllung und Freiheit gespürt, wie ich sie in Berlin nie kennenlernte. Meine naive Hoffnung, nun mit der Erfahrung aus Japan nach meiner Rückkehr auch eine andere Position in Berlin zu bekommen, hatte sich schnell verabschiedet. Ich war da, wo ich ein Jahr zuvor war: noch ein weiterer junger Medienfutzi in dieser Stadt.
Es stellte sich zunächst Nüchternheit und dann Frustration ein. Ich verlore meine Motivation und Leidenschaft für die Fotografie. Die wenigen Aufträge, die ich hier bekam, waren weniger erfüllend und spannend als sie es in Japan waren. Erst die Reise nach Palästina im Oktober brachte mir die Motivation zurück, auch wenn es nach wie vor nicht leicht fällt, sie zu erhalten.

Würde ich die Highlights des letzten Jahres auflisten, Palästina wäre sicher dabei. Viel mehr kommt dann aber auch nicht mehr. Während in Tokyo jeder Tag ein gewisses Abenteuer in sich barg, bot das mir bekannte Berlin nicht viel.

Doch ich denke, ich habe mich nie wirklich (wieder) auf die Stadt eingelassen. Mein Denken war nur davon bestimmt, wieder dorthin zurückzukehren, wo es spannend war und wo ich überhaupt eine Perspektive sehe. Ich sträubte mich, hier etwas langfristiges anzugehen, da ich meine Zeit in Berlin eh nur als temporäre Zwischenlösung betrachtete. So hab ich der Stadt nie wirklich eine Chance gegeben. Das es schlussendlich ein Jahr wurde, bevor es nun wieder in zwei Wochen Richtung Japan geht, hatte viele finanzielle und organisatorische Gründe.

Diese vergangenen zwei Jahre sehe ich als eine Einheit. Denn fast alles, was ich jetzt bin und die Aufträge, die ich mache, verdanke ich meiner Zeit in Japan, dem Material, was ich dort erstellt habe und den Kontakten, die ich in dieser Zeit knüpfte. Den Großteil meines Lebensunterhalts bestritt ich im letzten Jahr damit, alte Sachen aus Tokyo aufzubereiten und Medien anzubieten, oder in dessen Folge weitere Aufträge zu bekommen.

Die Zeit in Tokyo war arbeitsreich – mit allen positiven und negativen Konsequenzen die damit einher gehen. Das allgemeine Lebenstempo dort ist einfach höher, man bewegt sich schneller und macht mehr. Berlin ist entspannt, ja geradezu lethargisch verglichen mit Tokyo. Diese Umstellung des Tempos war nicht einfach, aber doch auch willkommen nach der anstrengenden Zeit in Tokyo.

Ferner noch: In Tokyo war meine Zeit von Arbeit bestimmt. Aufträge machen und neue ranziehen, die Miete verdienen und gleich daran denken, wie die nächste bezahlt wird. Ich hatte keine Zeit zum Nachdenken, zum Reflektieren über die eigene Arbeit und Ziele. Und wenn ich eines in dem vergangenen Jahr gemacht habe, dann das.

Ich glaube, ich konnte im vergangenen Jahr die Qualität meiner Arbeit viel mehr steigern, als in dem Jahr in Tokyo. Meine Texte sind besser, meine Fähigkeiten mit der Kamera geschickter.
In Tokyo fuhr ich eine klare “learning by doing”-Strategie. Ich machte einfach die große Geschichte und fragte mich erst danach, ob sie überhaupt in meinen Fähigkeiten liegt. Damit bin ich auch ein paar mal an die Wand gefahren, aber oft genug brachte es Erfolg und mich ein Stückchen weiter. Die Kommunikation über diese Arbeit war allerdings sehr einseitig. Einer Redaktion gefiel der Beitrag oder eben nicht. Die Gründe für Absage oder Abdruck bekam ich nie.

In der Zeit in Berlin war ich und meine Arbeit oft der Kritik anderer ausgesetzt. Etwas, wovon ich gut profitieren konnte. Allein die Vorbereitung für die Uni in Hannover und die intensive Auseinandersetzung mit deren Studenten hat meine Art zu Fotografieren sehr weit vorangebracht. Die Zeit während des Praktikums, bei der ich mich seit drei Jahren das erste mal wieder in einem Team unterordnen musste, war ebenso aufschlussreich. Die jahrelange Selbstständigkeit ist ein bisschen wie auf einer Insel zu leben. Wenn aber drei Kollegen deine Texte lesen und dir jeder seinen Input gibt, und du den Beitrag dann zum 6. Mal verbesserst, schult das die Sinne und die Feder.

Im Blog hat sich im letzten Jahr, verglichen mit dem zuvor, auch weniger getan. Und wie auch an den Inhalten zu erkennen war, zehrte er ebenfalls stark von den Erfahrungen, die ich in Tokyo machte, und weniger vom spannenden Alltag in Berlin.

Auch wenn ich vor einem Jahr gelandet bin, ich bin in Berlin nie wirklich angekommen. Im Kopf war ich immer irgendwo zwischen den beiden Städten, weder komplett raus aus Tokyo, noch zuhause in Berlin. Und dazu gesellt sich jetzt bald noch Hannover als dritte Stadt.

Ich kann dabei meine Situation aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten:

Wirtschaftlich
Auftragslage in Berlin: mau
Auftragslage in Tokyo: ordentlich

Beruflich
Status in Tokyo: internationaler Fotograf und Journalist
Status in Berlin: Einer von 54 Milliarden Leuten die “was mit Medien machen”

Persönlich
In Tokyo: Gefühl von Freiheit und offenen Möglichkeiten
In Berlin: Frustration und “Wo haben sie studiert/wie alt sind sie? Was?? Sammeln sie mal noch drei Jahre Erfahrung bevor sie zu uns kommen.”

Gastronomisch
Japanische Küche: Frisch, gesund, variantenreich
Deutsche Küche: Kartoffeln.

Und auch wenn Deutschland noch drei Schnitzelpunkte kriegt, die Bilanz fällt eindeutig aus.

In elf Tagen fliege ich wieder nach Tokyo und bleibe für fünf Wochen. Danach noch eine Woche Berlin und dann vier Jahre mal sehen wie lange in Hannover.

“Mach erstmal ne Ausbildung”
“Geh erstmal zur Uni”
“Flüchte nicht immer nach Tokyo”

Das sind Sätze, die ich seit zwei Jahren und länger höre. Doch wenn ich auf meine Erfahrungen und vorallem meine Bilanz blicke, fällt mir es mir schwer, diesen Sätzen zu folgen.

Fritze hier und anderswo V

Die pünktliche Publikations-Pirouette.

Mein Artikel wird sogar auf dem Cover angeteasert

Artikel in UNICUM über das Studieren in Sendai

Seitdem ich für das Studentenmagazin UNICUM einen Artikel aus Tokyo schrieb, war ich bei denen als “der Japan-Futzi” bekannt. Nach dem Erdbeben und dem Tsunami kam die Redaktion also auf mich zu und wollte einen Text über den Zustand von Studenten und Unis in der betroffenen Region, namentlich in Sendai.

Die Recherche dazu war schwierig. An dieser Stelle einen herzlichen Dank an die Blogleser, die mir dabei geholfen haben. Es war schwierig, Kontakt zu Studenten herzustellen, da sie entweder Sendai verlassen oder ihr Haus und somit ihr Internet verloren hatten. Oder schlimmeres…


UNICUM, Ausgabe 6/2011, Seite 10

Am Ende fand ich doch noch einen gesprächigen Studenten, der mir bei dem Beitrag half. Auch wenn ich viel nachfragen musste. Sicherlich waren für ihn viele Sachen nicht so einfach zu erzählen. Dem Text habe ich nur so viel Dramatik beigefügt, wie es der Situation angemessen war. Er ist in der Juni-Ausgabe von UNICUM, online lesbar hier auf Seite 10.

Wenn der Kensei Sato im Text davon spricht, dass er von seinem Fenster aus die Trümmer am Strand liegen sieht, und wenn man dann weiss, dass viele Studenten an der Küste wohnten, kann man sich denken, dass er bei dem Blick aus dem Fenster auf die Reste der Häuser seiner Kommilitonen schaut. Im Text habe ich diese Formulierung explizit vermieden, aber beunruhigend ist die Erkenntnis schon.

Video: Trenntkonzerte

Für die Berliner Zeitung arbeite ich ja ab und an als Kameramann/Cutter, weil die online nun auch Videos haben wollen. Auf mein letztes Video bin ich dabei besonders stolz, vorallem wenn man die Umstände bedenkt. Wir haben 17 Minuten gedreht, davon waren zehn Minuten Konzert und sieben Minuten Interview. Während die Band spielte, konnten ich den Platz nicht wechseln und beim Interview spielte nebenan ein lautes Konzert. Es war sehr schwierig zu schneiden, damit auch alles synchron passt. Trotzdem ist der Ton gut geworden und es fließt alles schön organisch zur Musik.
Es geht um “Musik aus Müll” bzw. wie sich Gegenstände noch so recyclen lassen, das gute Töne daraus entstehen.



Der P.R. Kantate im Video dürfte einigen vielleicht noch ein Begriff sein, das war der mit “Görli Görli”

Weblink -> trenntmusik

Berlin-Minsk für die Humboldt-Seite

Im Rahmen meines Praktikums schrieb ich auch einen längeren Bericht für die Seite der Humboldt-Universität in der Berliner Zeitung. Es geht um ein bislang recht wenig bekanntes Kapitel in der Berliner NS-Vergangenheit, das nun von Studenten erforscht wird. Ich schreib ja sonst fast nur Reportagen, da war ein reiner, langer Bericht mal eine nette Abwechslung. Auch um zu sehen, ob ichs noch kann.
Der Text ist nirgendswo online, nur als Bilddatei hier.

Weblink -> Berlin-Minsk

Diverses

Mein Text in einem Lehrbuch zum Journalismus

Hierfür muss ich etwas weiter ausholen: Eine Kollege in meiner Praktikums-Redaktion hat eine Tochter, 14 Jahre alt. Die kam mit ihrer Hausaufgaben zu ihm. Es ging um journalistische Textgattungen, als Beispiel war ein Kommentar aus der Berliner Zeitung abgedruckt. Mein Kollege half seiner Tochter bei der Aufgabe und sah zum Abschluss auf den Namen des Autors – meinen.

Ich wusste nicht, dass mein Text in einem Handbuch für jungen Journalismus abgedruckt wurde, noch warum gerade dieser es verdient hatte. Aber cool ist es schon, irgendwie.

Autor: Dr. Fritz Schumann

Wie schon ein paarmal erwähnt existiert ein Buch über Hiroshima mit mir als Autor. Weltbild.de hat dafür einmal “Fritz Schumann” gegoogelt und das erstbeste Ergebnis in die Autorenbiografie gepackt. Das Ergebnis liest sich wie folgt:

Dr. Fritz Schumann, seit vielen Jahren an der SLFA Neustadt tätig, ist Fachbereichsleiter Weinbau mit Betreuung der Rebsortimente und Leiter des Römischen Weingutes Weilberg in Ungstein.

weltbild.de

Nun frage ich mich, was ein Dr. Fritz Schumann, Experte für Weinbau, mit Hiroshima und Japan zu tun hat?

Dr. Fritz Schumann ist mir dabei sogar ein Begriff. Da wir unsere Email-Adresse beim selben Provider haben und sie sich nur durch einen Punkt(!) unterscheiden, bekam ich schon manchmal seine Post zugestellt.

Die Russen im Freitag

Das Magazin der Freitag hat ein Interview mit den drei russischen Kunstfälschern geführt und fragte mich, ob sie mein Portrait der drei Brüder für die Ausgabe nehmen können. Das war auch das erste Mal, dass ich mit diesem Blog etwas Geld verdiente, da sie durch ihn auf meine Bilder aufmerksam wurden.

Wir einigten uns auf den üblichen Tarif und es lief auch alles prima. Dass sie das Bild dann auch für online verwenden wollten, klärten wir zwar nicht nochmal extra ab, war mir aber vorher klar. Ebenso auch, dass das ohne spezielle Vergütung passieren wird. Was mir allerdings vorher nicht klar war, und mich auch ärgerte, war, dass ein falscher Name als Urheber unter meinem Foto stand.

Ein Maxim Lustikov sollte das Bild gemacht haben. Die Redaktion des Freitag brauchte vier Tage und drei folgende Emails um den, laut Eigenaussage, “peinlichen Fehler” zu korrigieren.

Eine Serie vorbei, eine neue beginnt

Meine Serie in der Berliner Zeitung, die nun schon seit Januar lief, endete Anfang des letzten Monats. Bevor ich nun in weniger als drei Wochen nach Japan düse, fotografiere ich die neue Serie (Trendsportarten für den Sommer) und die im Anschluss folgende Serie (Geständnisse) jetzt noch vorher ab. Wobei ich da im Zeitplan bereits arg hinterher bin…

…und zum Abschluss: headbangende Geishas

[youtube http://www.youtube.com/watch?v=0WEKyoaV25k]

Eine Insel für die Holländer und ihre Dirnen

Der letzte Tag in Nagasaki. Die Ruineninsel Gunkanjima hatten wir am Vormittag verlassen und den Bus wieder in die Stadt genommen. Noch sieben Stunden bis zum Flieger Richtung Tokyo. Genug Zeit, um uns die Insel der Holländer anzugucken, auf der sie 200 Jahre lang mit ihren japanischen Kurtisanen lebten.

Wie Japan mit der Welt außerhalb umging, und mit den Barbaren, die aus dieser Welt stammen, war stets verschiedenen Trends in der Politik unterworfen. Vor der Meiji-Restauration, in der sich Japan dem Westen öffnete und rasant zur Industrie-Macht aufstieg, hatte das Land für knapp 200 Jahre für alle Ausländer seine Grenzen dicht gemacht.
Alle Ausländer? Nein, ein kleines gallisches Dorf eine künstliche Insel vor der Küste von Nagasaki wurde exklusiv für die niederländische Ostindien-Handelskompanie eingerichtet: Dejima.


Eine Insel in der Insel. Modell der Insel auf der rekonstruierten Insel Dejima in Nagasaki

In der deutschen Wikipedia gibt es eine sehr ausführliche Geschichte der Insel Dejima, inklusive aller Holländer, die dort jemals stationiert waren. Ich möchte mich hier nur auf zwei Aspekte beschränken:

– Viele Erfindungen, Wissen und Technik, welche Japan schlussendlich die Industrialisierung im Rekordtempo ermöglichten, kamen durch diese Insel in das Land. Darunter auch die Elektrizität und viele medizinische Erkenntnisse, die u.a. bewirkten, dass bis heute in der japanischen Medizin viele Begriffe aus dem Holländischen und Deutschen entliehen sind

– Die Holländer, die auf der Insel stationiert waren, durften sie nicht verlassen. Es war mehr oder weniger ein Gefängnis, an dem nur einmal im Jahr ein fremdes Schiff landen durfte. Die Japaner durfte allerdings uneingeschränkt auf die Insel, sie studierten dabei die Westler und ihre Erfindungen. Ihre Familien durften die Holländer nicht mitbringen, doch diese Lücke füllten die japanischen Kurtisanen.

Kurtisanin ist ein altes Wort für Dirne, was wiederum ein altes Wort für Prostituierte ist. Während es den Holländern untersagt war, die Insel zu verlassen, herschte bei den Dirnen freier Verkehr konnten sich die Damen frei durch die Tore bewegen.


Dejima, 1729 / Quelle: wikipedia.org

Die Insel, inzwischen von der Stadt überwachsen und fast im Zentrum, statt an der ursprünglichen Küste, wurde rekonstruiert und als Freilichtmuseum eingerichtet.

Die modernen Bauten im Hintergrund zeigen, dass die Zeit der Samurai vorbei ist. Auch wenn sie sich hier noch treffen.

Die Sicht, die die Holländer damals auf die Bucht hatten, ist nun von der Firma Nakashima und noch mehr Stadt verdeckt.

Alle Gebäude sind betretbar und zeigen verschiedene Aspekte der Geschichte von Dejima.

Gefundene Artefakte und Knochen von Haustieren.

Einmal pro Jahr machte sich eine Reisegruppe von Holländern und Japanern auf den langen Weg nach Edo, dem heutigen Tokyo, um den Kaiser Geschenke zu bringen, damit er sie noch etwas länger duldet. Ab 1790 mussten sie nur noch alle vier Jahre zum Kaiser. Vielleicht hatte er nach dem 12. Holzschuh nicht mehr so viel Lust auf Geschenke aus Holland hatte er anderes zu tun.

Es gibt viele Illustration aus dieser Zeit, die zur Dokumentation und zum Studium angefertigt wurden. Wenn man dann aber weiss, dass die einzigen Frauen auf der Insel nun eben Dirnen waren, nimmt man diese Bilder ganz anders wahr.

Nun waren das natürlich andere Zeiten. Die Tafeln im Museum übersetzen die Berufsbezeichnung der Damen auch nicht als “Hure” sondern als Kurtisanen, die eben nicht nur für eine schnelle Dienstleistung zur Verfügung standen, wenns mal einsam wurde auf Dejima. Nicht nur die körperlichen Bedürfnisse der Holländern waren ihnen wichtig, sondern auch das Seelenheil der Reisenden, hier, allein in einem fremden Land. Einige Damen bekamen sogar eigene Quartiere auf Dejima geschenkt und begleiteten die Forscher und Händler aus dem Westen über Jahre.

Die Räume in den Häusern auf Dejima sind im schicken Kolonialstil gehalten, inklusive Tapete im Stile des 18. Jahrhunderts.

Ich glaub nirgendwo sonst auf der Welt waren die Kolonialherren so unter Kontrolle der Bewohner wie in Japan. Daher wird dieses Kapitel auch nicht so negativ betrachtet wie in anderen Ländern. Es war zu beiderseitigen Vorteil:

Die Holländer hatten das Monopol auf Waren und Kultur aus Japan (was sie zwar offiziell nicht exportieren durften, aber trotzdem machten). Die Japaner hingegen hatten so einen direkten Draht zum Westen, ohne ihm komplett ausgeliefert zu sein.


Tisch, Teppich und Tatami

Ich glaube, auch wenn die Insel de facto ein Gefängnis war, ging es den hundert bis zweihundert stationierten Holländern hier ziemlich gut. Sie hatten ein ganzes Land zu entdecken, Kurtisanen und Häusern mit Sicht aufs Meer.

Auch wenn die Aussicht mittlerweile auf eine Straßenbahnlinie und Parkplatzgebäude fällt.

Auf derselben Insel, aber gebaut nachdem Japan sich öffnete und auch die Holländer freigelassen hatte, war ein Gebäude aus dem 19. Jahrhundert. “International Club Nagasaki” stand vorne dran. Der Club wurde gegründet von den Nachkommen der Holländer und anderen ausländischen Besuchern. Ich denke, wenn man 200 Jahren allein auf einer Insel nur mit Kurtisanen verbringt, entstehen viele Nachkommen.

Das Gebäude diente ebenfalls als ein Museum, zeigte aber eine andere Epoche. Man merkte den alten Fotos an, dass die Japaner inzwischen auf Augenhöhe mit den Westlern waren. Sie übernahmen ihren Stil, ließen sich in Anzug fotografieren und spazierten lachend mit den Fremden durch die Straßen eines Nagasaki im 19. Jahrhundert.

Es war gerade Fußballweltmeisterschaft, in mehreren Fernsehern liefen die letzten Spiele in einer Schleife und an der Wand hingen die Flaggen der letzen vier verbliebenen Mannschaften. Und Japan.


Eine Flagge aus Uruguay, die neben Spanien, Deutschland und Holland eigentlich im Halbfinale spielten, konnte wohl nicht gefunden wurden. Warum dann der britische Union-Jack genommen wurde, verstand ich nicht

Im internationalen Club wurde ich gefragt, ob ich aus Holland komme. Nein, aus Deutschland, sagte ich, und man gratulierte mir gleich zum jüngst gewonnen Spiel von Deutschland in der WM. Ein älterer Angestellter wollte von mir wissen, ob ich Franz von Siebold kenne. Der Name war mir tatsächlich aus dem Biologie-Unterricht noch bekannt, auch wenn ich ihn nicht einordnen konnte.

Siebold war auch eine zeitlang auf Dejima, als einziger Deutscher, wie mir der Angestellte sagte. Er fragte mich, ob er wohl ein Spion gewesen sei, da ja eigentlich nur Holländer auf der Insel erlaubt waren. Schon möglich, sagte ich, und verschwieg, dass eigentlich noch andere Europäer auf der Insel lebten.
Nun sagt man ja, dass Westler Asiaten schlecht unterscheiden können und umgedreht soll es ebenso sein. Und die meisten Deutschen können gesprochenes Koreanisch wahrscheinlich auch schwer von Japanisch unterscheiden. Doch dass Siebold etwas anders sprach als seine Kollegen auf Dejima, fiel den Japanern auch auf. Damals wurde das damit begründet, dass Siebold aus einer bestimmten Region in Holland stammte, in der eben ein anderer Dialekt gesprochen wird. So wurde der Deutsche kurzerhand zu einem Berg-Holländer erklärt und keiner fragte mehr.


Dicht an dicht wächst die Stadt den Hügel hinauf

Wir verließen die Insel und besuchten noch kurz das China-Town von Nagasaki. Neben den Holländern waren die Chinesen die zweite, große ausländische Kraft, die während Japans Abschottung in Nagasaki noch Handel betreiben durfte.

Wir machten uns dann noch auf den Weg Richtung Zentrum, zu einer Kirche, auf einem Hügel mit Aussicht.

und… AAAHHHHH… da war er wieder…

Das Christentum hatte sich in Nagasaki halten können. Tote gab es aber während des Verbots der Religion auch hier. Ihnen zu Ehren wurde ein Denkmal und ein Museum errichtet.

Das Denkmal der 26 Märtyrern beeindruckte auch dieses kleine Fernsehteam, während sie noch auf ihren Kameramann warteten.

Dann in den Bus und ab zum Flughafen. Die Sonne verabschiedete sich über der See, als wir Nagasaki das letzte Mal sahen.

Mit dem Flieger Richtung Tokyo endeten fünf Tage in Nagasaki, die ich vor knapp einen Jahr dort verbrachte und fast ebenso lang im Blog nacherzählte. Aber glaubt mir, hätte ich die ganze Zeit Kurtisanen neben mir gehabt, hätte es wahrscheinlich noch länger gedauert.

———————————————–
Die Nagasaki-Nacherzählung:

Teil I – Nach Nagasaki, der Insel wegen
Teil II – Nagasaki, Stadt im Regen
Teil III – Buddha und die zerstörte Stadt
Teil IV – Gräber, die die Stadt hinauf wachsen
Teil V – Die touristenfreundliche Ruine im Pazifik
Teil VI – Eine Insel für die Holländer und ihre Dirnen