Froschhochzeit

Eine deutsch-japanische Heirat.

Ich bin kein Hochzeitsfotograf.
Trotzdem fragte mich Anji in der U-Bahn in Tokyo, ob ich im Dezember zur Verfügung stehe. Es war ein Tag im Oktober und das erste Mal, dass wir uns überhaupt mal richtig sahen. Und trotzdem wollte sie gleich, dass ich bei ihrer Hochzeit Bilder mache. Kurz vor Weihnachten, südlich von Hamburg.
Gerne.

Das erste mal traf ich Anji auf den Straßen von Tokyo im Sommer 2011. Ich war gerade zu Besuch in Japan und lebte wieder in meiner alten WG in Nakano, die inzwischen wieder zahlreiche neue Mitglieder hatte. Eine davon war mit Anji gerade vor der Haustür, als ich Richtung Conbini marschierte. Erst versuchten wir es auf Englisch, dann stellte sich aber raus, dass wir beide aus Deutschland kamen und sogar gleich alt waren. Sie war gerade frisch verheiratet und wohnte in der Nähe. Das war mir direkt mal sympathisch. Alle Deutschen, die ich sonst so in Tokyo traf, waren entweder älter als ich, Studenten mit Stipendium, oder blutjunge Working Holiday Reisende. Anji aber arbeitete. Wie ich.

Als ich vom Conbini zurück kam, war sie bereits weg. Ich hatte unsere Begegnung als Randnotiz meiner Tokyo-Reise schon abgehakt, da entdeckte ich zurück in Deutschland einen Blog. Geschrieben von einer jungen Deutschen in Tokyo. Aus Nakano. Frisch verheiratet. Ich zählte zwei und zwei zusammen und schrieb sie auf Facebook an. Von da an unterhielten wir uns regelmäßig über das Leben und Arbeiten in Japan, kreative Berufe und Hoffnungen für die Zukunft.
Erst bei meiner letzten Reise nach Japan sollte ich sie wirklich kennen lernen. Und kaum zwei Monate später trafen wir uns schon in der Kirche.

Das heisst, getroffen haben wir uns erst nach der Trauung. Doch der Reihe nach.
Um 6 Uhr früh machte ich mich auf dem Weg in Hannover. Es gab einen Kälteeinbruch über Nacht, die Straßen waren glatt und dunkel. Die Straßenbahn Richtung Hauptbahnhof hatte Verspätung und der Zug nach Hamburg kommt nur einmal die Stunde. Es wurde knapp. Im Hauptbahnhof musste ich rennen, um den Zug noch zu erwischen. Neben mir rannten noch andere, die schon in der Straßenbahn neben mir saßen. Doch ich war der schnellste. Hinter mir gingen die Waggon-Türen zu und der Zug fuhr los, eh ich wieder Luft schnappen konnte. Aus dem Fenster sah ich noch meine Mitreisenden. Sie hatten es nicht geschafft. Ich hatte jedoch keine Zeit zu verlieren, schließlich galt es eine Hochzeit zu fotografieren. Der wichtigste Tag im Leben.

Zwei Stunden später in Hamburg wurde ich von Anjis Freundinnen aufgelesen und zur Kirche gebracht. Wir standen eine Weile an einer Ampel, mit dem konstanten Blick auf die Uhr. Um 12 sollte die Trauung sein, es war bereits weit nach 11 Uhr.
Links von uns war ein großes Graffiti, es erstreckte sich über eine ganze Häuserwand. Die Wellen erinnerten mich an ein bekanntes ukiyo-e, eine urjapanische Kunstform. Ich nahm es als Omen für den Tag.

Angekommen suchte ich das Brautpaar, doch beide waren nicht zu entdecken. Die Zeit drängte. Ich bereite mich schon mal vor und schraubte das Objektiv an die Kamera, dass ich mir extra für die Hochzeit besorgt hatte. Ich hatte es zuvor noch nie benutzt, mir wurde aber gesagt, es sei das klassische Hochzeitsobjektiv und man könne damit nicht viel falsch machen.

Das Objektiv wog jedoch schwer in der Hand und in der dunklen Kirche war es schwierig, ein scharfes Bild zu zaubern. Die Braut lächelte mich hingegen vom anderen Ende der Kirche an. Um 12 Uhr sollte ich da sein, und um 12 Uhr war ich da. Das vorher keine Zeit mehr für ein Gespräch oder eine Begrüßung blieb, war nebensächlich. Ich denke, sie war auf jeden Fall erleichtert, sich nun nicht auch noch um den Fotografen zu sorgen – auch wenn der Blick häufig in meine Richtung ging. Ist er noch da? Macht er noch Bilder?

Dann das übliche. Kuss, Ring, Familienfotos. Das kannte ich ja alles bereits. Nur die Weihnachtsdeko irritierte, schließlich war zwei Tage später schon Heiligabend und alles war drauf eingestellt. Auch das Wetter. Weiß in Weiß war die Braut im Schnee. Ein Albtraum für die Kamera. Aber die Braut freute sich.

Als ich mit Bekannten über die Hochzeit sprach, meinten die nur: “Die Braut hat ein Lächeln, da lacht die ganze Welt mit.”
Je mehr ich über die Organisation und die Umstände der Hochzeit erfuhr, desto mehr beeindruckte mich ihr Lächeln. Anji hat das komplette Ding so gut wie alleine organisiert. Auch bei der Hochzeit war sie noch die Managerin, bei der alles zusammenlief. Ganz ohne Trauzeugen oder Brautjungfern. Auch die Eltern nahmen nicht zu viel von ihrer Last ab. Von Tokyo aus organisierte sie nun fast alleine eine große Hochzeit im norddeutschen Hinterland. Mit Mitte 20. Respekt.

(Verheiratet waren die beiden schon vorher, nur jetzt folgte die Zeremonie. Vorher fehlte Zeit und Geld.)

Neben der Braut und dem Bräutigam war ich der einzige, der sich einigermaßen in Deutsch, Englisch und Japanisch verständigen konnte. Ich denke, das war auch eine große Entlastung für die Braut. Mit der Familie des Bräutigams, die extra wegen der Hochzeit nach Deutschland reiste, konnte ich gut reden oder eventuelle Fotokommandos geben. Die Braut musste nicht immer übersetzen.
Der japanische Vater lud mich anschließend auch in sein Haus in Saitama ein. Liebenswert.

“Ich brauche mehr Details”
Vorgaben für die Fotos machte die Braut mir kaum. Ich sollte nur möglichst viele Details und Nahaufnahmen mitnehmen. Auch sollte jeder mal auf einem Foto zu sehen sein. Und dann natürlich noch der Kuchen. Selbstdesignt.

Was mir bei meiner ersten Hochzeit noch schwer fiel, waren die Paarportraits. Inszenieren ist ja nicht so meins. Ich hatte diesmal mir etwas überlegt, wollte aber lieber mit dem arbeiten, was mir geboten wurde. Im großen, dunklen Tanzsaal im Erdgeschoss fand ich dann die Fenster, die mir das beste Portrait erlaubten. Etwas rumprobieren, zwischendurch Nase kratzen und draufhalten. Fertig.

Wir hatten vorher allerdings nicht vereinbart, wie lange ich denn Bilder machen sollte. Der Abend wurde immer länger und die Speicherkarten voller. Am Ende kam ich auf 10 Stunden Fotografieren und 2.400 Fotos. Uff.
Alleine kann man auch gar nicht alles mitnehmen. Mal muss die Karte gewechselt werden, oder für den Kuss ist das falsche Objektiv vorne dran. Wie gesagt, ich bin kein Hochzeitsfotograf. Höchstens ein Hochzeitsfotografritz.

Als Ausgleich für den langen Tag stellte mir das Brautpaar ein Zimmer in dem Gasthaus zur Verfügung. Auch zum Essen war ich eingeladen. Das war einfach nur fantastisch. Und das beste: Sobald der Teller leer war, kam eine Kellnerin und füllte ihn wieder auf. Wie ein nicht versiegendes Füllhorn. Der Traum eines jeden Studenten.

Bevor ich gegen 23 Uhr müde ins Bett fiel, nahm ich noch am Mit-Stäbchen-Essen-Wettbewerb Teil. Ich belegte den dritten Platz, nach zwei Japanern. Aber die waren eh im Vorteil.

Anschließend begann die Nacharbeit. Die über zweitausend Fotos durchzusehen, die ja auch fortlaufend gewünscht wurden, war nicht einfach und dauerte lange. Das zwischendurch noch die Semesterarbeiten an der Uni entstehen und abgegeben werden mussten, tat sein übriges. Die Braut wurde ungeduldig.

Damit sie nicht ganz ohne Bilder war, wagte ich ein Experiment. Bereits in der Kamera fiel mir auf, wie filmisch ich fotografierte. Es ergab kleine Sequenzen oder Perspektivenwechsel. Als ich nun also wieder zuhause war, lud ich alle Fotos auf den Computer und ließ sie als Bilddateien ausrechnen. Alle 2.480. Komplett unselektiert und unbearbeitet. Das reine Exportieren dauerte 5 Stunden.

“Der Unterschied zwischen einem Profi-Fotografen und einem Amateur ist: Der Profi zeigt niemals seine schlechten Bilder.”
So ein Sprichwort, das ich auch in meiner Arbeit (und diesem Blog beherzige). Hier nun aber einmal alle Bilder eines Shootings. Von unscharf bis ungenau. Hier könnt ihr mal sehen, wie ich arbeite, welche Momente viele Fotos fordern und wie ich meine Positionen korrigiere.
Das sind die Bilder, direkt wie ich sie gesehen habe.

Die nächste Hochzeit kommt bestimmt. Aber sicher nie wieder mit so vielen Fröschen.

Mehr Bilder im Blog der Braut: Meine Traumhochzeit

Endlich Finnland IV: Im Innern des Waldes

Es gibt da einen Ort tief im Wald, sagte sie, da gehen wir heute hin. Sie ging voran und ich hinterher.Stunden entfernt von der nächsten Straße entdeckten wir viel Wasser, einen vergessenen Schützengraben und einen Grillplatz am endlosen Ufer.

Der letzte Tag im Finnland begann im Haus am See. Der Weihnachtsmann war schon zur Arbeit, seine Frau saß noch im Wohnzimmer und schaute fern. Gähnend gesellte sich Tiina dazu. Es lief eine amerikanische Show mit finnischen Untertiteln. Grundsätzlich sind Filme und US-Serien nie synchronisiert, entweder gibt es Untertitel, oder in seltenen Fällen spricht eine Stimme monoton in Finnisch drüber. Die guten Englischkenntnisse der Finnen sollen eine Konsequenz von dieser Fernsehgestaltung sein – auch wenn alle Finnen, die ich sprach, das amerikanische Fernsehen für recht stupide halten.
Kurz vorm Ende der Show verabschiedete sich die Mutter in den Arbeitsalltag. Tiina trottete in die Küche und packte für den Tag.


Aussicht aus dem Küchenfenster

Wir brauchen Fleisch und Zeug, sagte sie. So genau ins Detail gehen wollte sie nicht. Der Ort, sowie das, was wir dort machen und essen, sollte ein Geheimnis bleiben. Tiina meinte nur, sie kennt da nen Ort im Wald, an dem man ein Feuer machen kann.
Wir marschierten los, sie mit Rucksack und ich mit Kameratasche. Ob ich ihr nicht was abnehmen kann, fragte ich. Sie lächelte nur und meinte, meine Kamera sei eh schon schwer genug. Recht hatte sie.

Durch den Garten gingen wir zum See. Diesmal schlugen wir allerdings den Weg links ein, statt rechts, wo der Steg lag. In Ufernähe standen vereinzelt kleine Wohnhäuser. Je länger wir liefen, desto weniger wurden es. Bis schlussendlich keins mehr zu sehen war, und nur noch Bäume den Weg säumten. Mittendrin blieb Tiina stehen. Sie hatte etwas furchtbar wichtiges vergessen. Ich solle nur mal eben hier im Wald warten.
Gerne.

Als ich diese Bilder hier mal in meinem Freundeskreis zeigte, hieß es: “Du bist ein echtes Stadtkind, ne?”. Es stimmt. Auch wenn Berlin im Vergleich mit Tokyo noch sehr grün ist, so bin ich doch zwischen Beton und Platten aufgewachsen. Der Ausflug in die Natur tat mir sehr gut, und ich konnte gar nicht aufhören, Bilder zu machen. Auch wenn es auf meinen Karten eng wurde.

Je weiter wir in den Wald gingen, desto schmaler wurde der Weg. Irgendwann war er ganz weg. Doch Tiina wusste schon, wo es lang geht. Seit sie ein Kind ist, kennt sie diese Wälder. Zwischen den Wurzeln und Trampelpfaden tanzte sie sicher umher, auch wenn ich mehr als einmal stolperte. Wie konnte sie es nur fast zwei Jahre im grauen Tokyo aushalten? Sie lächelte wieder und meinte, dass Finnland zwar sehr schön ist, aber auch tierisch langweilig. Seit sie ein Kind ist, kennt sie eben diese Wälder.

Ich blieb regelmäßig stehen, um Bilder zu machen. Tiinas Vorsprung vergrößerte sich mit jedem Foto. Aber solange rechts das Wasser und links der Forst war, ging es noch.

Irgendwann hatte sie der Wald verschluckt. Ich rief mehrmals und irgendwann entdeckte ich sie dann. Frech grinsend und zufrieden mit all der Natur.

Der Schützengraben

Wir waren bereits einige Stunden unterwegs. Plötzlich stießen wir auf einen Graben, der mit groben Steinen aufgeschüttet war. Eindeutig von Menschenhand gemacht. Von der Zeit vergessen und überwuchert mit Moos.

Tiina erklärte mir, dass dies ein alter Schützengraben ist. Ausgehoben im 2. Weltkrieg, versteckt im Wald und mit Blick nach Osten. Falls die Russen vom See her angreifen sollten. Bis heute ist die versuchte Invasion der Sowjetunion im 2. Weltkrieg nicht vergessen, der direkte Nachbar bleibt suspekt.
Bis zum Ende des Krieges galt Mäntyharju als geheime Militärbasis, auch wenn hier kein einziger Schuss abgefeuert wurde. So erklärte es auch eine verwitterte Tafel neben dem Graben. Fasziniert von diesem Stück Geschichte wanderte ich auf den groben Steinhaufen entlang. Tiina nahm eine andere Route.

Gebaut für den Krieg, erobert sich die Natur den Graben trotzdem zurück. Er hätte vielleicht die Russen gestoppt, aber niemals Moos und Pilze.

Ich hatte Tiina wieder aus den Augen verloren. Erst beim Blick Richtung Sonne entdeckte ich sie. Sie simste ihren Freund.

Oben auf dem Hügel war ein Rastplatz für Wanderer, mit Aussicht und Gästebuch.

Doch wir waren noch längst nicht da, wo wir sein wollten.


Das Bild ist übrigens bis heute mein Desktop-Hintergrund

Kurzzeitig hatten wir uns verirrt. Wir hatten zwar einen Weg gefunden, aber es war anscheinend der falsche. Tiina navigierte nach Gefühl, nicht nach Karte.
Wir gingen wieder zurück, bis sie irgendwann meinte, dass es hier runter geht. Es gab keinen Weg, nur eine Markierung am Baum. Und viel Holz um uns. Tiina marschierte voran, ich hinterher. Nebenbei blieb ich ab und an mal stehen und fotografierte. Als ich mich dann wieder umdrehte, war Tiina weg. Überall nur Bäume. Und kein Weg.

Ich rief. Keine Antwort. Nur Echo. Ich lief weiter in die Richtung, die am wenigsten Hindernisse bot. Vielleicht war es ja der richtige Weg. Ich rief in den Wald. Nix.

Irgendwann hörte ich dann jemand nach mir rufen. Ich kämpfte mich durchs Unterholz zur Quelle der Stimme und da stand Tiina und winkte vergnügt. Gleich sind wir da, sagte sie.

Ich vertraute auf ihren Instinkt und packte die Kamera erstmal weg. Die erste Speicherkarte war eh voll und ich hatte nur noch eine weitere dabei.

Den Hügel hinab, Richtung Ufer, dann fanden wir den Ort, den Tiina versprach. Es war wunderschön.

Es war ein Grillplatz mitten im Wald, mit Hütte und Aussicht. Wir waren mindestens zwei Stunden von der nächsten Straße entfernt und eine halbe Stunde vom letzten Waldweg.


Links ein Klo, rechts Holzscheite zur freien Verfügung.

Der See erstreckte sich vor uns und wurde nur von vereinzelten Waldufern unterbrochen.

Tiina holte die Verpflegung raus und begann den Grill anzuwerfen. Sie hatte an alles gedacht. Grillanzünder, Feuerzeug, Fleisch, Besteck, frischen Tee und sogar Tassen aus Holz. Echt finnisch. Als sie den gesamten Inhalt ihres Rucksacks in der Hütte vor dem Grill ausbreitete, fühlte ich mich direkt etwas schlecht. Das Gewicht meiner Kamera war nix dagegen.

Ganz beseelt nahm ich Platz. Wir waren alleine hier, mittem im Wald. Weit weg von Hannover, von Kopenhagen, von Helsinki. Die Sonne ging langsam unter, als wir am Ufer des Sees saßen. Das Feuer knisterte. Ich packte die Kamera weg. Den Moment wollte ich selbst abspeichern, er sollte nur mir gehören.

Am anderen Ufer zog der Regen der letzten Tage weiter.

Tiina konnte das nix anhaben. Wir räumten auf und gingen durch den Wald zurück.

Die Sonne war nun weg und meine Speicherkarten voll. Kein Grund mehr für Fotos. Aber eins musste ich noch machen, weil Tiina mich drum bat. Am Waldrand stand ein kleiner Fliegenpilz, den wollte sie unbedingt mitnehmen – als Bild.

Müde aber zufrieden kamen wir im Haus ihrer Eltern an. Am nächsten Morgen sollte bereits mein Flieger von Helsinki abheben. Ich setzte die Kamera ab und seufzte.

Als Dankeschön für die Gastfreundschaft der Eltern wollte ich ihnen ein Geschenk machen. Seit 30 Jahren haben sie kein Portrait von sich als Paar fotografieren lassen. Das Letzte war ihr Hochzeitsfoto. Mit den wenigen Speicherplatz in der Karte, den ich noch hatte, wollte ich ihnen eine Freude machen. Also durch den Garten, ab zum See. Die Sonne ging unter, wir hatten noch ein paar Minuten wunderschönes Licht. Ein bisschen friemeln, gucken, testen, verrenken und klack. Da war das Bild gemacht. Ich war zufrieden und zeigte es den beiden.

Nun sind Finnen bekannt als maulfaul und kühl oder distanziert. Seit 30 Jahren das erste Portrait und ihre Reaktion war: “Joa, nett.” Ich zweifelte an mir. Zusammen mit Tiina warf ich noch einen Blick über den See, bis die Sonne hinter den Baumkronen verschwand. Ihre Eltern waren bereits drinnen, der Vater telefonierte und lief dabei durchs gesamte Haus. Ich goss mir ein Glas Moosbeerensaft ein. Tiina grinste die ganze Zeit und übersetzte, was ihr Vater machte. Der war nämlich so happy über das Foto, dass er gleich seine jüngste Tochter in Helsinki anrief um davon zu erzählen. Aber vor mir zeigte er das natürlich nur ungern. Es war mein letzter Tag in Finnland, aber nach dieser Szene verstand ich die Finnen besser als je zuvor.

Sterne überm See

Schon in der ersten Nacht im Haus von Tiinas Eltern fiel mir der Sternenhimmel über dem See auf. Ich war zwar todmüde und in 7 Stunden ging bereits mein Flieger, aber ich wollte nicht ohne ihn gehen. Ich lud Tiina ein, mit mir Sterne zu gucken. Sie hatte noch eine Hausarbeit für die Uni zu erledigen, und wollte dann nachkommen. Treffpunkt war der Steg. Ich ließ mir von der Mutter eine Taschenlampe geben und ging Richtung Sterne.

Ich merkte schnell, Sterne fotografieren ist nicht so ganz einfach. So ohne Stativ und alles. Zudem beobachten mich dabei die glühenden Augen einer Katze oder eines Fuchs.


Eine Chemiefabrik in Mäntyharju

Ich wartete in der Dunkelheit auf Tiina. Irgendwann fiel mir dann auch ein, dass ich ja bestimmt die einzige Taschenlampe des Hauses hatte. Wie sollte sie nun also durch die Dunkelheit kommen? Aber sie ist ja hier aufgewachsen. Kind der Natur. So ein bisschen Nacht kann ihr da bestimmt nix.

Irgendwann sah ich es am Ufer flackern. Sie hatte sich noch eine Fahrradleuchte organisiert und um den Kopf gebunden. Dazu sprach sie am Handy mit ihrem Freund. Sie hatte sich wohl doch in der Dunkelheit gegruselt und brauchte eine Stimme, die sie ablenkt. Auf dem See und unter den Sternen war das aber alles nicht mehr wichtig.


Ich bat sie, sich so für das Bild hinzulegen. Sonst hat sie natürlich mehr auf die Sterne, als ihr Handy geschaut.

Auf dem Weg zurück war sie dann nicht mehr alleine. Kurz vor ihrem Haus legte sie sich draußen hin. Sie wollte noch nicht rein, sondern mehr Sterne gucken. Ich legte mich auch auf den kalten Boden. Augen nach oben.


Die Milchstraße

In dieser Nacht zog ein Metoriten-Schauer an der Erde vorbei. Aber das sollte ich erst später erfahren. Während ich noch mit der Kamera hantierte, um ein Bild zu kriegen, zählte Tiina Sternschnuppen. Sie sah drei Stück. Ich sah keine einzige durch meine Kamera.

Mit dem Gesicht voran fiel ich anschließend auf das Bett von Tiinas Schwester. Der Vater würde mich in ein zwei Stunden zum Bus bringen, der mich zum Flughafen bringt.
Na dann kurze Nacht.

Endlich Finnland
Teil 1 – Train Job
Teil 2 – Helsinki ist nicht hell
Teil 3 – Im Haus am See
Teil 4 – Im Innern des Waldes
Teil 5 – Schlaflos in Kopenhagen
Extra: Das Saunamobil

Endlich Finnland III: Im Haus am See

Weiter geht die Reise. Tiina lud mich in ihr Heimatdorf ein, zum Haus ihrer Eltern. Hier in Südostfinnland gab es weniger Wind, viele Bäume und unzählige Seen. Einer davon befand sich in ihrem Garten.

Der letzte Morgen auf der Matratze. Wieder war ich der erste, der wach war. Wieder machte ich die Küche sauber. Das Hühnchengelage der letzten Nacht sah und roch man noch. Tiinas Freund verspeist Hähnchenflügel übrigens so: den ganzen Flügel in den Mund, laut schmatzend im Mund hin und her schieben, komplett abnagen, den Kopf dann über den Teller beugen und die Knochen langsam aus dem Mund fallen lassen. Das ganze sieben mal. Ich bekam nur vier Flügel runter.

Ich wollte mich gerade an den Herd machen, dessen schwarzen Fettflecken schon seit fünf Winter eingebrannt waren, da wachte Tiina auf. “Du hättest das nicht alles sauber machen müssen”. Oh doch.

Wir winkten ihrem Freund zum Abschied und machten uns auf den Weg zur Busstation. Die finnische Landschaft ist zersetzt von Seen, Hügeln und tiefen Wäldern. Man kann eine Stunde fahren, ohne je einen Menschen oder eine Straßenlaterne zu sehen. Züge erreichen daher nicht alle Orte. Nützlicher ist das gut ausgebaute Bus-Netzwerk. Für Studenten kosten die sonst sehr teuren Tickets nur die Hälfte. Wie schon auf der Fahrt nach Helsinki ging Tiina vor, lächelte den Fahrer an und meinte, wir sind beide Studenten. Halbherzig zeigte ich meinen Ausweis aus Hannover vor. Meine Finger verdeckten ganz zufällig die halbe Plastikkarte. Doch der Fahrer winkte uns nur nach hinten durch. Ab nach Mäntyharju.

“Wohin?” fragte ich. “Mäntyharrju!“, ausgesprochen Manntüharrrryu. Das R macht die Hälfte des Wortklangs aus.
Ich weiß nicht mehr genau, wie lange die Fahrt dauerte. Wir redeten die ganze Zeit. Über Japan, die Zukunft, die Wälder und die Berge, die am Fenster vorbei zogen. Irgendwann, als die Dämmerung einsetzte, kamen wir in einem kleinen Ort mit Bahnstation an. Davor ein Glaskasten. Es war ein Café im finnisch-amerikanischen Country-Stil. Schwierig zu beschreiben, auf jeden Fall viel Holz, Fässer und Whiskey. Und Tee für 1,50 Euro.
Wir warteten auf Tiinas Vater, der uns mit dem Auto abholen wollte. “Er sieht aus wie der Weihnachtsmann”, sagte sie. “Aber sag ihm nicht, dass er aussieht wie der Weihnachtsmann. Er hört das nicht so gerne.” Auf dem Tisch vor uns lag eine aufgeschlagene Zeitung. Von Seite eins bis zwölf waren nur finnische Politiker abgedruckt. Tiina, die sonst ein positives Wort über jeden sagen kann, hatte diesmal keine. Finnische Politiker, zumindest die abgedruckten, äußerten sich wohl sehr europa-feindlich. Das mag sie nicht. Sie ist für ein harmonisches Zusammenleben und freies Reisen in Europa. Bevor ich zu Seite 13 kam, parkte ihr Vater schon draußen. Er sah tatsächlich aus wie der Weihnachtsmann.

Ich begrüßte ihn auf Finnisch und stellte mich vor. Ich fragte ihn auf Englisch, wie es ihm denn geht. Sein Blick ging zu Tiina. Die lachte nur und meinte “ach ja, mein Vater spricht kein Englisch.” Diese Aussage sollte sich eine Flasche Wodka später als Trugschluss erweisen. Tiina erzählte mir auch einmal, wie sie mit ihrem Freund auf Englisch telefonierte, als sie daheim war. Nach dem Gespräch kicherte ihr Vater schelmisch. Er versteht mehr, als er zugeben möchte.

Auf der Fahrt zum Haus des Weihnachtsmanns saß ich hinten. Dunkle Wälder zogen links und rechts und vorbei und höchstens alle 10 Minuten ein Auto. Das Gespräch kriege ich nicht mehr zusammen. Ich machte nur die mentale Notiz, das es gut lief und ich Eindruck beim Vater machte. Tiina übersetzte fleißig alles, was ich und der Vater sagten. Dabei hob sie ihre Stimme kräftig an. Der Weihnachtsmann war schwerhörig.

An den Lichtern konnte ich erkennen, dass wir in eine Siedlung einbogen. Die letzte Lampe am Ende der Straße gehörte zum Wohnhaus der Familie. Beim Einparken bellte das Haus schon. Jussu, der sehr alte Hund der Familie, begrüßte mich mit seinem Teddi im Mund und nickte mit dem Kopf auf und ab. Fast wie eine höfliche Verbeugung. Ob der Hund krank sei, fragte ich Tiina. Nein, sagte sie, uns hat nur das Bellen genervt, da haben wir ihm das Nicken beigebracht. Jussu war froh mich und Tiina zu sehen.

Die Mutter begrüßte mich per Handschlag und mit einem vollen Kühlschrank. Es waren sogar zwei Kühlschränke. Der eine für Gemüse, Butter, Milch und Wodka. Der andere war oben für die Ernte und unten für das Fleisch von der Jagd und von der Farm. Tiinas Vater hatte es zwar nicht erlegt oder gemästet, aber er hat viele Freunde, die ihn beschenken. Eine Tüte im unterstes Fach enthält ganze Schweinohren. Die bekommt Jussu jeden Abend.
Die Familie deckte den Tisch und ich bezog mein Zimmer. Ich bekam den Raum von Tiinas Schwester. Das offizielle Gästezimmer aber noch so eingerichtet wie zu ihrer Teenager-Zeit, die nur wenige Jahre zurück liegt. Tiinas Schwester steht auf Frauen, daher befanden sich viele junge Damen auf Postern an der Wand. Damit hatte ich nun wirklich keine Probleme. Ganz im Gegenteil.


Eines der wenige Poster ohne jungen Dame im Zimmer: Eine Karte der Welt der Mumins

Und endlich gabs ein richtiges Bett! Ich hätte direkt einschlafen können, doch der Geruch aus der Küche lockte. Vorher gab mir der Vater noch eine Tour des Hauses. Tiina konnte nicht mehr übersetzen, da sie mit ihrem Freund telefonierte. Ich verstand zwar kein Finnisch, aber was das Wohnzimmer und was das Klo war, konnte ich so einigermaßen ausmachen. Wir beendeten die Tour im Kaminzimmer, wo der Vater frischgeschlagenes Holz anzündete. Es knisterte. Ich war die ganze Woche nicht so entspannt wie in diesem Moment.

Ein Wort der Tour des Hauses verstand ich aber. Sauna. Jedes Haus in Finnland hat eine. Das Feuer im Kamin wärmte sie bereits auf. Nach dem Essen sollte jeder einmal rein. “Du verlässt das Land nicht, ohne in einer Sauna gewesen zu sein!” drohte mir Tiina mit einem Lächeln. “Du bist Sauna ja nicht gewohnt, also starten wir mal bei 70°C.” Ich schwitzte schon beim Gedanken daran.

Beim Essen gab es selbstgemachte Fleischbällchen und Saft aus Moosbeeren. Die Erkältung, die Tiina und ihr Freund die letzten Tage plagte, machte sich nun auch bei mir breit. Schon in Porvoo kündigte Tiina das Hausmittel ihrer Mutter gegen Erkältungen an: in Wodka aufgelöster Knoblauch. Den gab es im Anschluss. Die Mutter stellte das Schnapsglas vor mir auf den Tisch und drei Finnen guckten mich erwartungsvoll an. Der Geruch von Knoblauch war streng. Mit einem großen Schluck leerte ich das Glas. Eine Wärme machte sich in meinem Hals breit. Als ich das Glas wieder auf den Tisch stellte, merkte ich, dass die Blicke immer noch auf mir ruhten. Es ist gut, sagte ich. Erleichterung. Kann ich noch einen haben? Mutter war zufrieden und schenkte nach, der Vater lachte anerkennend und bot mir gleich einen Whiskey an. Und Tiina gluckste vergnügt.


Die Siedlung erinnerte mich an nordamerikanische Suburbs. Alle Häuser sind flach gebaut. Genug Platz hat man ja.

Zurück im Zimmer checkte ich meine Ausrüstung. Nichts vergessen, alles ist da und noch Platz für knapp 1.000 Bilder. Sollte reichen. Es klopfte an die Tür. Die Sauna sei nun fertig, aber zunächst würden die Eltern reingehen. Ein nackter Weihnachtsmann ging im Flur an mir vorbei und lachte.

Die Familie sauniert jeden Abend, es gehört dazu wie das Zähneputzen. Feuchtglänzend und mit einem Handtuch bekleidet erklärte mir der Vater, hauptberuflich Elektro-Ingenieur, wie Sauna funktioniert. Seine Handzeichen brauchten keine Übersetzung: Du sitzt hier. Da sind die Kohlen. Hier ist die Kelle. Dann machst du so. Er schüttete frisches Wasser auf die Kohlen und es zischte. Der Dampf beschlug mir die Brille. Okay, sagte ich. Okay sagte der Weihnachtsmann, lachte und ging mit Frau Weihnachtsmann ins Schlafzimmer. Ich war nun auf mich allein gestellt.

Wie beim Bad in einer heißen Quelle in Japan duscht man sich, bevor man in die Sauna geht. Ich ließ meine Brille im Vorraum und setzte mich aufs Fichtenholz. Es dampfte.

Und nun? Lektüre kann man sich in den Dampf nicht mitnehmen. Mein iPod hätte in der Luftfeuchtigkeit wahrscheinlich einen Kurzschluss. Aber auch mal gut, auf nichts starren zu müssen, und die Gedanken frei im Dampf atmen zu lassen.

Nach einer Weile löste ich mich wieder vom Holz und ging raus. Tiina stand schon im Gang. Und? Wie wars? Ich keuchte. Sie reichte mir ein Glas Eiswasser. Um das verlorene Wasser zurück zu bekommen, sagte sie. Eine echte Saunaexpertin. In der einen Hand das Handtuch um meine Hüfte, in der anderen das Glas, ging ich durch das Kaminzimmer in den Garten. Zum Abkühlen. Es war frisch, aber es wehte kein Wind. Über dem See konnte man die Milchstraße im Himmel erkennen.

Wieder drin warf ich mir Schlafklamotten über und fiel im lesbischen Zimmer aufs Bett. Nichts in der Welt hätte mich jetzt davon wegziehen können.

Der nächste Tag war diesig. Während meiner gesamten Zeit in Finnland wechselte sich das Wetter ab. Sonne, wolkig, Sonne, wolkig. Heute wars grau.
Tiina hatte eigentlich einen besonderen Platz im Wald, den sie mir zeigen wollte. Aber der sollte auf gutes Wetter warten. Heute gingen wir nur um den See.

So ein finnischer Mischwald gewinnt echt gegen deutsche Monokulturen-Wälder.

Überall lagen vereinzelt kleine Boote. Alle waren nur aufs Land geschoben, keins war vertaut. Alle gehörten den Anwohnern. Das Gebiet ist beliebt bei Urlaubern, erklärte Tiina. Viele haben hier ihr Sommerhaus. Im Winter und Herbst sind die meisten der Behausungen leer und es ist ruhig. So wie jetzt.

Wir erreichten einen Steg. Der See lag ruhig und fast unberührt vor uns.

Die Bootshäuser warteten auf den nächsten Frühling. Tiina tanzte derweil den Steg entlang.

Ein Schild begrüßte uns, als wir aus dem Wald heraus kamen. Auch wenn man in Finnland nie wirklich aus dem Wald heraus kommt.

Da ich die ganze Zeit fotografierte, versuchte sich Tiina auch einmal in den Spuren des Regens.

Das Ergebnis:

Tiinas Familie war nicht der einzige Grund, warum ich nach Mäntyharju fuhr. Dort gab es nämlich eine Geschichte für mich zu fotografieren. Zu dieser Geschichte kann ich mich an dieser Stelle noch nicht äußern. Es ging um ein Auto, eine Sauna mit zwei dicke Finnen und mir in der Mitte, und eine große Flasche Wodka.
Ein Andermal.

Viel wichtiger ist, dass ich an diesem Morgen nicht die Küche putzen musste. Das erledigte die Frau des Weihnachtsmanns.


Jussus Teddy. Bissfest.

Im nächsten Teil geht es dann noch tiefer in die finnischen Wälder.

Endlich Finnland
Teil 1 – Train Job
Teil 2 – Helsinki ist nicht hell
Teil 3 – Im Haus am See
Teil 4 – Im Innern des Waldes
Teil 5 – Schlaflos in Kopenhagen
Extra: Das Saunamobil