Endlich Finnland II: Helsinki ist nicht hell

Der erste Tag begann in einer kleinischen finnischen Stadt – die sich dann doch mehr nach Vietnam anfühlte. Nach einem beschaulichen Spaziergang ging es auch schon in die Hauptstadt, wo es ein unerwartetes Wiedersehen gab.

Wenige Stunden nach meiner Ankunft wachte ich am Boden des Wohnzimmers wieder auf. Es war hell, die Blätter der Birken vor dem Fenster leuchteten grün und tanzten im Wind. Ich machte das Fenster zu. Der Wind des finnischen Herbstes legte sich kalt auf meine Matratze am Boden. Acht Uhr früh. Ach herje.

Erst fünf Stunden zuvor legte ich mich hin, nach zwei Tagen auf Reisen ohne Schlaf. Der Rest der WG schlief noch. Das Wasser in der Heizung plätzscherte wie ein kleiner Bach unterm Haus. Ich stand auf und duschte.

Die WG bestand aus meiner Freundin und zwei Vietnamesen. Mit einem davon teilte sie das Bett. Alle waren Studenten der örtlichen Fakultät, die wiederum zur Universität der nächstgrößeren Stadt gehörte.
Selbst in Finnland ist es ungewöhnlich, dass sich Studenten ein ganzes Haus leisten können. Doch das Vier-Zimmer-Anwesen gehörte einer alten Dame, die ihr Haus ohne Erben und ohne Sauna hinterließ.

Schon beim Aufwachen nahm ich den strengen Geruch war. Es roch nach vietnamesischen Essen, zwischen drei und fünf Tagen alt. In der Spüle sammelt sich das Geschirr und die Essensreste. Als meine Freundin dann gegen 13 Uhr zusammen mit dem Rest des Hauses erwachte, entschuldigte sie sich für die Verhältnisse. Wie ich später herausfand, konnte sie am wenigsten dafür.
Wir gingen spazieren.

Zwei Jahre hatten wir uns jetzt nicht gesehen. Ich lernte sie kennen, als ich noch in Tokyo lebte. Alles begann mit ihrem Bett:
Mein Rücken und ich waren den dünnen Futon leid, auf dem ich schlief. Ich wollte unbedingt ein Bett haben. Tiina, meine finnische Freundin, bot eines im Internet an. Sie wohnte zwar in einem anderen Stadtteil in Tokyo, doch der Preis sagte mir zu. Da ich zwischendurch immer mal wieder für Fotos unterwegs war, verschob sich der Abholtermin immer wieder, bis sie es schlussendlich an jemanden anders verkaufte. Doch durch die vielen Emails, die wir uns schickten, waren wir einander inzwischen so sympathisch, dass wir uns treffen wollten. Sie studierte damals Japanisch, wollte aber lieber etwas kreatives machen. Was lag also näher, als zur Design Festa zu gehen, die an dem kommenden Wochenende stattfinden sollte? Obwohl wir uns im Laufe meines Jahres in Tokyo nur noch drei weitere Male trafen, unsere Freundschaft blieb eng und tief.

Was uns verbindet sind nämlich nicht unbedingt die gemeinsamen Erinnerungen, oder dass wir die gleichen Dinge hassen. Es ist eine Art Seelenverwandtschaft. Wir sind beide gleich alt, selbst der Altersunterschied unserer Väter beträgt nur zwei Tage. Wir beide kamen nach Japan, um etwas zu suchen, was wir zuhause nicht fanden – ohne je genau zu wissen, was es war. Wir beide kehrten zurück, waren planlos und trafen doch unabhängig voneinander die gleiche Entscheidung, wie unser Leben weiter verlaufen sollte, jeweils mit einer ähnlichen Motivation.

Auf dem Weg setzte sich ein Käfer auf Tiinas Hand. Sanft setzte sie ihn auf einem riesigen Findling inmitten des Waldes ab. Der Käfer habe genau so ein Recht darauf glücklich zu sein, wie sie, sagte sie mir. Selbst die Wespe, die sich später am Tag ins Wohnzimmer verirrte, sammelte sie ein und entließ sie in die Freiheit.
(Ich persönlich hasse Wespen und verfolge eine Null-Toleranz-Politik wenn ich die Biester sehe)

Tiina mag Reisen. Obwohl sie Finnlands Natur liebt, so ganz wohl fühlt sie sich hier nicht. Ich bin ihr einziger nicht-asiatischer Freund, sagte sie mir über einer heißen Schokolade. Wir saßen im örtlichen Café, das auf einem Schiff gebaut wurde. Der Ort, Porvoo, war im Land als einer der ältesten bekannt. Besonders berühmt sind seine Schiffshäuser.

Ihr Freund war nicht geplant. Nach ihrer Rückkehr aus Japan, die ein Jahr nach meiner passierte, wollte sie sich möglichst wenig binden. Weder an das Land, noch die Leute. Bloß schnell wieder weg. Doch dann passierte es.

Mit ihrem Freund war sie im Sommer zuvor in Vietnam, seiner Heimat. Dort war er der kleine Prinz. Seine Mutter und seine Schwestern räumten ihm alles hinterher, bedienten ihn am Essenstisch und er musste sich um nix kümmern. Diese Tradition brachte er mit nach Finnland und das Geschirr stapelt sich. Der Mitbewohner der beiden, ebenfalls Vietnamese, tut es ihm gleich. Es gibt regelmäßig Streit über das Geschirr. Und während sie sich streiten, stapelt es sich, und keiner fühlt sich verantwortlich.
Wir nahmen den Weg zurück durch den Wald.

Zurück im Haus dröhnte vietnamesischer Schlager. Die halbe WG spielte nebenbei Warcraft. Ich nutzte die Gelegenheit um ein paar Mails nachhause zu schreiben. Die Musik nervte, aber als Gast, der kostenlos logierte, hielt ich mich zurück.
Gefällt dir der Sänger Fritz?
-Was?
DER SÄNGER?
-Ja, ist super, nur n bisschen laut, wa?
Ja genau!

Überall im Haus lagen Laptops, bereit gestellt von der örtlichen Uni. Sie waren so kostenfrei wie das gesamte Studium. Das Haus finanziert das finnische Bafög. Als Student hat man viel Vergünstigungen, die allerdings das gesamte Land trägt. Alles ist teuer in Finnland. Nur die Bildung ist gratis.

Tiina klagte derweil über Schmerzen. Auf meine Nachfrage meinte sie nur „Frauenschmerzen“. Meine Expertise auf diesem Gebiet beschränkt sich auf Aspirin und Wärmflasche. Beides nahm sie bereits, bedankte sich aber für die Anteilnahme. Ihr Freund klagte derweil über Schnupfen und nötigte sie, ihm ne Suppe zu kochen, da er weiterspielen möchte. Ich tippte weiter und schickte meine Kommentare nach Deutschland, statt an meine Gastgeber.


Tiina mag das Bild, das zum Haus mitgeliefert kam. Es erinnert sie ans Reisen und an die Ferne

Am nächsten Tag ging es nach Helsinki. Wieder war ich der erste im Haus, der wach wurde. Da ich mittlerweile den Geruch der Küche, deren offene Tür einen Meter von meiner Matratze entfernt war, nicht mehr ertragen konnte, reinigte ich das Geschirr. Und den Rest der Küche. Als Tiina aufwachte und in die Küche kam, stand sie sprachlos vor mir. Das hatte ich nicht erwartet, sagte sie. Das ist doch selbstverständlich, sagte ich. Inzwischen hatte sie auch den Schnupfen von ihrem Freund übernommen. Bei jedem Nieser wünschte ich ihr Gesundheit. So viel Höflichkeit kannte ich nicht. Sind alle Deutschen so höflich, fragte sie. Ich meinte nur, man muss nicht unbedingt deutsch sein, um höflich zu sein. Man muss sich nur um seine Mitmenschen sorgen. Ich sagte dem Freund Tschüss und wir gingen zum Bus Richtung Helsinki.

Helsinki ist jung ergraut. Wie das Land selbst existiert seine Hauptstadt noch nicht so lange. Man merkt ihr das junge Alter an und den Reichtum dieses nordeuropäischen Landes. Gegen das graue Wetter stach die Stadt allerdings nicht mit Farbprächtigkeit hervor. Deswegen habe ich die Bilder gleich eh alle in Schwarz/Weiß gezogen.

Tiina lebte selbst einmal hier und zeigte mir alles Sehenswerte.

Am Hafen ruhten wir uns kurz aus und aßen eine Bratwurst aus Rentierfleisch. Mild-würzig.
Zwei Tage habe ich nun schon das Treiben in ihrer WG verfolgt. Ich war besorgt und fragte nach, ob sie das alles auch so wahrnimmt wie ich. Sie lächelt nur. Keine Sorge Fritz, der ist sonst ganz anders und viel netter. Wo du jetzt hier bist, lässt er den Macho raushängen und ist eifersüchtig. Tut ihm mal ganz gut, ergänzte sie und lächelte Richtung Wasser. Ich aß mein Rentier etwas beruhigter.

Tiinas Schwester arbeitet in Helsinki. Sie ist Fachfrau für Kosmetik und steht auf Frauen. Das weiß sie aber erst seit ein paar Jahren. In dem Dorf, aus dem beide Schwester kamen, gab es so etwas nicht. Dass also diese Option existiert, auch Frauen zu mögen, das hat sie erst in der Hauptstadt gelernt. So erklärte es mir zumindest Tiina. Die Schwester ist größer als Tiina und auch ein Stückchen reifer, trotzdem ist sie die jüngere der zwei. Tiina besucht sie gerne in Helsinki, denn dann bekommt sie immer gratis Make-Up.
Tiinas Schwester ist sehr gut in dem, was sie macht. Im ersten Monat nach Abschluss ihrer Ausbildung hatte sie bereits den Verkaufsrekord gebrochen – nicht nur den in ihrem Laden, sondern den von gesamt Finnland. Sie war wahrscheinlich auch eine Inspiration für Tiina, die in Japan immer Maskenbildnerin werden wollte. Dann wollte sie zum Film. Wieder in Finnland wollte sie als Tourismusfrau nach Korea. Und jetzt? Sie lächelt nur breit und meint, sie weiss es nicht. Es ist auch nicht so wichtig, um glücklich zu sein.

Als jemand, der schon seit jungen Jahren sehr, sehr zielstrebig bestimmte Dinge verfolgt, nerven mich Gespräche mit so wankelhaften Gemütern eigentlich sehr. Nur bei Tiina nicht. Sie pflichtet mir da auch bei. Sie kann Leute nicht ausstehen, die nicht wissen, was sie wollen. Was sie und mich allerdings von denen unterscheidet, ist die Leidenschaft. Es ist okay, nicht zu wissen was man will, oder lange ein Ziel zu verfolgen. Solange man Leidenschaft im Herzen trägt.

Gegen 19 Uhr standen wir vor dem großen Kaufhaus, in dem Tiinas Schwester inzwischen Feierabend hatte. Es war ein altes, ehrwürdiges Kaufhaus. Die historische Uhr am Eingang gilt als beliebter Treffpunkt. Dort standen wir nun, doch die Uhr war weg.

Wir warteten auf eine Japanerin, unklar ob sie unsere Nachricht verstand und ob sie die Uhr ohne Uhr finden würde.

Sie war Austauschstudentin an meiner Uni in Hannover. Eines Tages hing ein Aushang am Fahrstuhl, unser Ersatz für ein mangelndes Schwarzes Brett. „Fotograf gesucht für etwas mit Japan“ stand darauf. Ich fühlte mich angesprochen. Drei Tage später traf ich Yuki in einem Lokal in Hannover. Sie sprach kein Deutsch, schlechtes Englisch und war ganz aus dem Häuschen, dass ich ihr Japanisch verstand. Sie plante eine Foto-Ausstellung in Hiroshima, Thema war „Leben“. Deutsche und japanische Studenten sollten darin Lebenswelten zeigen. Dafür wollte sie Gelder bei der Stadt Hiroshima beantragen. Vorher reist sie aber erstmal quer durch Europa. Wo sie ja schonmal auf dem Kontinent ist. Dabei reist sie natürlich wie eine Japanerin. Pro Land ein Tag.

An einem Tag war sie in Helsinki. Exakt an dem Tag, wo ich in Helsinki war. Sie wusste meine Reisepläne nicht, ich auch nicht ihre. Trotzdem fanden wir uns vor einem finnischen Kaufhaus, unter der verschwundenen Uhr wieder. Yuki, inzwischen mit ihrem japanischen Freund als Reisegefährten unterwegs, konnte es nicht glauben. Im Laufe des Abends erwähnte sie noch dreimal, wie unwahrscheinlich doch unser Zusammentreffen war. Dennoch saßen wir alle zusammen. Japaner + -in, zwei Finninnen und ein Deutscher, der die größte Kamera im Raum bedienen musste.

Tischsprache war Japanisch, und meins war am schlechtesten. Vier Wochen später sollte ich schon wieder in Japan sein. Ich schaute besorgt in meine Teetasse.

Mit dem vorletzten Bus ging es zurück nach Porvoo. In der Dunkelheit gingen wir zurück zum Wohnhaus, aus dem immer noch vietnamesischer Schlager dröhnte.
Na dann gute Nacht.

Endlich Finnland
Teil 1 – Train Job
Teil 2 – Helsinki ist nicht hell
Teil 3 – Im Haus am See
Teil 4 – Im Innern des Waldes
Teil 5 – Schlaflos in Kopenhagen
Extra: Das Saunamobil

2 Gedanken zu „Endlich Finnland II: Helsinki ist nicht hell“

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