Die alte Dame und die Puppen

Seit 25 Jahren betreibt Renate Herrmann eine Puppenklinik in Berlin-Tempelhof, die mittlerweile zu einem großen Archiv von Körperteilen aus Plastik geworden ist. Ihre Tochter hilft bei den Arbeiten an Puppen, Teddys und Figuren, von denen einige bis zu 80 Jahren alt sind und die Weltkriege überlebten – aber die Enkel von heute nicht.

Ans Gitter klammern

Wie schon ein paar mal erwähnt, würde ich gern ab diesem Oktober in Hannover Fotojournalismus studieren. Mein erster Besuch dieser Schule im Dezember letzten Jahres brachte viel Ernüchterung: Auch wenn ich schon ein Jahr in Tokyo als Fotograf gearbeitet hatte, so brachte mir das keine Pluspunkte. Die suchten eine besondere Form der Fotografie, das Geschichtenerzählen nur in Bildern, die ich vorher noch nie gemacht hatte. Die Bilder, die ich mache, bebildern meist einen Text, und so fotografiere ich sie dann auch. In Hannover verlangen sie aber für die Bewerbung Bilderserien, mit einem narrativen Faden. Das bedeutete, dass ich kein Foto aus meinem Archiv verwenden konnte, sondern komplett neue Bilder schießen musste. Es begann mit der Suche nach einem Thema.

Eine Geschichte als Text erzählen, das konnte ich. Diese Fähigkeit behinderte mich aber zunächst, da ich mich doch sehr stark an den Text klammerte, in dem ich abstrakte Zusammenhänge erklären konnte. Mit Fotos eine Geschichte zu erzählen ist sehr viel anders, und eher noch vergleichbar mit einem Film. Da ich auch schon Erfahrung im Drehen von Filmen hatte, kam mir das zugute. So versuchte ich einfach das Thema so umzusetzen, als würde ich einen Film mit dem Fotoapparat drehen.

Nun braucht es nur noch ein Thema. Ich suchte wirklich lange und hielt mich zu sehr mit einem Wunschthema auf: Das Krematorium in Berlin. Mich hat dort ein Blick hinter die Kulissen interessiert, seitdem ich vor einigen Jahren eine spannende Doku über das Haus gesehen habe. Mir war auch klar, dass das Thema grafisch gut umzusetzen wäre, mit vielen interessanten Motiven. Nach Wochen der Verhandlung willigte das Haus dann auch endlich ein, mich dort fotografieren zu lassen, ergänzte dann aber gleich im Nebensatz, dass mir pro Stunde(!), die ich im Haus fotografiere, 314€(!!) in Rechnung gestellt werden – ohne eine Rechtfertigung, wie sich die Kosten zusammensetzen oder ohne das in den Wochen vorher oder auf der Homepage auch nur mal ansatzweise zu erwähnen. Eine ziemliche Frechheit, die ich dann aber höflich ablehnte.

Handwerk eignet sich noch am Besten und einfachsten für eine Serie, denn es gibt eine feste Ausgangssituation, einen Prozess und ein Endprodukt, was man alles begleiten kann. Allerdings wollte ich auch etwas nehmen, was ich periphär noch spannend finde. Die Rubrik “gleich nebenan” vom rbb, in der sie ungewöhnliche oder einzigartige Geschäfte in Berlin besuchen, war da ein guter Fundus. Ich schrieb ca. 10 Adressen, die mich interessierten, an, zwei meldeten sich zurück, und eine davon war die Puppenklinik von Renate Herrmann.

Ich als Kerl hatte natürlich einen ganz anderen Zugang zu Puppen – nämlich garkeinen. Ich wusste aber, dass es viele Motive geben dürfte. Und diese Unbefangenheit ermöglichte mir auch, etwas freier auf das Ganze zu blicken.

Eine Reportage bzw. eine Serie in Bildern zu erzählen ist langwieriger, als nur mit Text. Während man beim Schreiben mit den richtigen Fragen zur interessanten Geschichte kommt, muss man bei Fotos eben auf das richtige Bild warten. Ein Prozess als Text kann einen Satz dauern, braucht man aber Bilder vom Anfang und vom Ende kann es Stunden bedeuten. Es braucht auch ein anderes Vertrauensverhältnis zu den Fotografierten, da Bilder immer noch etwas intimer und persönlicher als blinder Text sind. Ich wusste also, ich brauche viel Zeit. Zeit, nicht nur um auf das richtige Bild zu warten, sondern auch Zeit, damit sich die Fotografierten an mich gewöhnen.


Im alten Kinderwagen links warteten dann die heilen Puppen auf ihre Abholung

An insgesamt zwei Tagen war ich dann als stiller Beobachter im Geschäft. Nach einer Weile wurde ich wirklich nicht mehr wahrgenommen, auch wenn Frau Herrmann in den 25 Jahren des Geschäfts schon mehr als häufig von Journalisten besucht wurde.

Auch wenn sie gesundheitlich nicht mehr so gut bestellt war wie vor 25 Jahren, gab sie sich doch viel Mühe, um Eleganz und Haltung zu bewahren. Eine höfliche Dame, die zurückhaltend und doch sehr bestimmt war.

Sie machte den Laden jetzt mit ihrer Tochter, da die Fingerfertigkeit auf die Dauer die Knochen überlastet. Ihre Tochter hat Zahnarzthelferin gelernt, kann daher filigran arbeiten, macht aber derzeit viel mit Kosmetik.

Frau Herrmann hat eine hohe Meinung von den Fähigkeiten ihrer Tochter, die sie mir aber nur sagte, wenn ihre Tochter nicht im Raum war. Sobald sie wieder da war, wurde sie kritisch beäugt und ihre Arbeitsschritte gemustert. Mutter und Tochter eben.

Überall lagen Köpfe, Beine und andere Ersatzteile für Puppen aus den Jahrzehnten herum. Von den Regalen blickten sie mit leblosen Augen auf die Kunden.

Hinterm Haus im Schuppen lagen noch mehr abgetrennte Körperteile und kleine Mädchen in Plastik.


Ein Kaiserbaby – tatsächlich eine Puppe des Kinds vom Kaiser, über 90 Jahre alt. Ein hässliches Kind Puppenkörper.

Je mehr Kunden kamen und gingen und je mehr mir Frau Herrmann von den Puppen erzählte, desto mehr Einblick bekam ich in deren Geschichte. Die meisten Puppen aus der deutschen Vergangenheit stammten aus Thüringen – und wurden oft in Kinderarbeit gefertigt, da nur die kleinen Hände so fein arbeiten konnten. Kinder machen Kinderpuppen, ohne das es ihnen erlaubt war damit zu spielen. Ich habe versucht diesen abstrakten Aspekt hinter den Puppen in Bildern darzustellen, in dem ich sie etwas bedrückter und farbärmer einfing. Mit Text ist so etwas leicht zu erzählen, mit Bildern kann man etwas, das bereits geschehen ist, nicht mehr abbilden.

Für viele ist die Puppe auch ein Symbol für die heile Kindheit: Ist die Puppe okay, ist die Kindheit okay. Viele, die ihre Puppen in den Weltkriegen gerettet haben, während vielleicht Verwandte um sie herum verstarben, bringen ihre Puppen zu Frau Herrmann, damit sie die Kindheit wieder rettet.

In einer Schublade am Arbeitstisch verbargen sich die Glasaugen für leere Puppengesichter.

Das Problem bei solchen Details, und mein Problem in der Fotografie generell, ist, dass man sich in ihnen verlieren kann. In einer Geschichte, die in Bildern erzählt wird, sind 1-2 Bilder von Details ganz nett, aber sie an sich erzählen nichts. In der Puppenklinik entstanden so 500 Fotos, von denen waren 300 von Details. Klar bietet es sich auch an, aber es bringt keine Geschichte voran.

Die Puppenklinik habe ich vor und nach der Berlinale begleitet. An dieser Stelle einen schönen Dank an Martin, der Student in Hannover ist und mit mir bei der Berlinale im selben Programm war. Er hat mir viele Tipps zu Motiven und zur Auswahl gegeben.


Eine Puppe aus den 40ern, die Kundin aus den 30ern

Und dann war da noch:

Im Februar ist der Laden, der dort 25 Jahre lang war, umgezogen, ins Eigenheim von Frau Herrmann. Vieles war bei meinen Besuchen schon in Kisten verschwunden oder auf dem Weg dahin. An meinem zweiten Tag dort wurde der Arbeitstisch demontiert und weggetragen von der BSR. Vier gestandene Kerle kamen dann in die Puppenstube, argwöhnisch verfolgt von hunderten toten Augenpaaren. Neugierig fragten sie dann, wieviel so alte Puppen denn wert sind und ob, wenn sie bei einer Entrümpelung dann eine alte finden, sie dann ewig finanziell ausgesorgt hätten. Also erklärte die alte Dame den Herren die Welt der Puppen.

Frau Herrmann war übrigens auch schon in Japan und hat sich dort das Puppenhandwerk angeschaut. Zu ihren Schätzen gehören auch Puppen vom japanischen Kaiserpaar, die zuhause auf ihrer Fensterbank sitzen. Viele Kunden bringen Puppen, die nur noch sitzen. Einige personifizieren sie auch und haben dann die Puppen als einzigen Gefährten und Gesprächspartner. Die meisten aber gebrauchen sie für Kinder und Enkel.

Über die letzliche Auswahl der Bilder und, viel wichtiger, deren Reihenfolge habe ich dann lange nachgedacht und mich für 12 entschieden. Diese Serie bildet dann, neben zwei weiteren in meiner Mappe, das Kernstück, weil sie als Serie auch am Besten funktioniert. Die Mappe war auch der Grund, warum ich so wenig gebloggt habe in letzter Zeit, und nicht, weil ich so viele Aufträge habe – ich habe nämlich momentan alle Aufträge verloren. Aber mit der Mappe hab ich auf jeden Fall ein gutes Gefühl.

Dr. Nakamats, die Berliner Zeitung und ich

Als erster deutscher Journalist habe ich Dr. Nakamats interviewt – ein exzentrischer Erfinder, der in ganz Japan als Erfinder von Springschuhen, Gehirn-Tees und als lustige Fernsehfigur bekannt ist, und der im Rest der Welt als Erfinder der Computerdiskette gilt. Das Interview schickte ich an die Berliner Zeitung, die es zunächst vehement ablehnten und es ein halbes Jahr später trotzdem abdruckten – ohne mir Bescheid zu sagen.

Dr. Nakamats

Ich war naiv.
Ich bin ein bisschen mit der Erwartung nach Japan gegangen, ein paar nette Bilder im Monat zu machen und die dann nach Deutschland zu verkaufen. Die Kontakte zum Auslandsressort der Berliner Zeitung hatte ich schon vorher aufgebaut, die sich damals schon stark an Beiträgen aus Japan interessiert zeigten.
Schnell stellte sich Ernüchterung ein, denn meine Bilder wollten sie zuerst nicht (nur von Agenturen!) und zahlen schon mal gar nicht. Ich begriff recht schnell, dass Bilder ohne Geschichten sich nicht verkaufen lassen, ich musste diese dann schon dazu liefern. Was für interessante Geschichten in Japan passierten, das konnte ja nur ich wissen, denn meine Redaktion kennt Japan ja nicht und würde mir in der Hinsicht keinen Auftrag erteilen. Mit der Zeit bekam ich ein Gespür dafür, was für deutsche Medien interessant sein könnte. Allen voran müssten meine Themen exklusiv sein, denn wenn sie vorher schonmal von einem Journalisten mit mehr Ahnung, Sprachkenntnissen oder Hintergrundwissen gemacht wurden, konnte ich keine Argumente mehr für mich liefern.
In einem deutschen Blog stieß ich dann auf dieses Video:

[youtube=http://www.youtube.com/watch?v=n_w9XMTJnpM&fs=1&hl=de_DE]

Es war der Trailer zu einer Dokumentation über Dr. Nakamats, der schon eindrucksvoll zeigte, was für ein interessanter Typ der ist. Ich recherchierte etwas weiter und fand dabei auch einen sehr guten Beitrag im PingMagazine über Dr. Nakamats. Doch deutsche Beiträge gab es über ihn noch nicht, da kein deutscher Journalist bisher über ihn berichtet hat. Ich witterte meine große Chance.

Ich schrieb den Regisseur der Doku an, dessen Premiere zu dem Zeitpunkt kurz bevor stand. Er kam aus Dänemark und hatte einen deutschen Vater. Wir schrieben uns auch kurz auf Deutsch. Mit dem Hinweis, den Artikel auch groß über die Doku aufzuziehen, was ich als aktuellen Anlass auch brauchte, bekam ich Kontakte zur Sekretärin von Dr. Nakamats.

Es verging etwas Zeit, in der ich meinen deutschen Mitbewohner bat, mir beim Interview mit der Übersetzung zu helfen. Da er schon zwei Jahre in Tokyo lebte, kannte er auch Dr. Nakamats – aus dem Fernsehen und von der Straße. Der selbsternannte Doktor tritt nämlich regelmäßig zu den Wahlen in Tokyo an, gekleidet mit einem weißen Anzug, Zylinder und langen weißen Cape.

Die Sekretärin antwortete dann, und ich meinte schon, dass ich einen Übersetzer für das Interview habe. Doch Dr. Nakamats besteht darauf das Interview in Englisch zu machen, sagte sie, denn das Englisch von Dr. Nakamats ist sehr gut. Das war wohl so ein Prestige-Ding, mit Ausländern auch ohne Übersetzer kommunizieren zu können. Sie gab mir eine Adresse ohne Wegbeschreibung, irgendwo im Westen von Tokyo. Ich machte mich mit dem Fahrrad auf den Weg.

Adressen in Tokyo sind etwas kompliziert. Die Straßen haben keine Namen, nur die Viertel und Nachbarschaften. Man bekommt also nun drei Angaben, erst vom großen Bezirk, dann vom kleineren Viertel im Bezirk und dann die Nummer vom Häuserblock. Innerhalb von diesem Häuserblock hat das Haus dann auch noch eine eigene Nummer, die allerdings nur die Reihenfolge angibt, in der das Haus, verglichen mit den anderen Häusern im Block, gebaut wurde. So gibt es oft Haus Nr. 1 neben Haus Nr. 12 und Nr. 5. Um es kurz zu machen: Ich musste mehrmals nach dem Weg fragen.

Ich musste in der Nachbarschaft nur “Dr. Nakamats” sagen, damit die Leute lachten und in die richtige Richtung zeigten. Der Doktor war bekannt in der Nachbarschaft, für seine Experimente und Erfindungen, die er gerne auf den Straßen hier im westlichen Tokyo ausprobierte.

Als ich dann vorm Haus stand, gab es keinen Zweifel mehr, dass es das richtige war:


Die schwarze Hausfassade soll kosmische Energie einfangen, sagt der Erfinder

Das Dr. Nakamats House, an der Dr. Nakamats Street Ecke Dr. Nakamats Avenue, auf dem dem Dr. Nakamats Platz. Wer es bis hierhin noch nicht mitbekommen hat, der Kerl ist sehr egozentrisch. Das er die Schilder nur einfach so aufgestellt hat, und Tokyo nicht die Straßen nach ihm benannt hat, versteht sich von selbst, und beschreibt ganz gut den selbsternannten fünffachen Doktor.

In den folgenden Absätzen werde ich nicht den Doktor ausführlich beschreiben, dafür verweise ich mal auf die zwei Artikel, die ich über ihn geschrieben habe. Ich habe die Geschichte über ihn tatsächlich zweimal verkauft, dazu komme ich später nochmal. Bis dahin gilt der Artikel in der Berliner Zeitung vom 4. Oktober 2010 und in der UNICUM Dezember Ausgabe


Ein Windrad im Eingang, um aus Strömungen innerhalb des Hauses Energie zu gewinnen

Den richtigen Eingang zu finden war nicht leicht. Zuerst bin ich durch die offene Tür ins Gebäude, wo offensichtlich eine Art Besucherraum war. Der Name von Dr. Nakamats und sein Gesicht prangten überall.

Dort war irgendwo auch eine Klingel, die ich zwar drückte, aber auf die keine Reaktion kam. Ich ging dann nochmal raus und fand zwei weitere Eingänge. Einer sollte sich später als Eingang zu einem Appartment-Komplex rausstellen, der ebenfalls Dr.Nakamats gehört, und in dem Schüler seiner “Genius Academy” wohnen. Die “Genius Academy” bietet Interessierten die Möglichkeit, nah mit dem Meister zu wohnen und ihn ab und an mal bei der Arbeit zuzuschauen. Zu jeder Zeit wohnen ca. 15-20 Leute dort, die die 700€ im Monat zahlen können. Aufnahmekritieren gibt es, bis auf das Geld, kaum welche, auch wenn der Doktor sowieso behauptet, man müsste mit Genie-DNA geboren werden, sont könne nicht zu einem Genie werden. Er hat natürlich diese Genie-DNA. Ob er seinen zahlungskräftigen Schülern einen DNA Test unterzieht, bezweifle ich.

Der andere Eingang war groß mit “Dr. Nakamats House” überschrieben. Ich klingelte und konnte verständlich machen, dass ich der 14 Uhr Termin bin, der jetzt um 14.15 Uhr hier klingelt. Nüchtern wurde ich drauf hingewiesen, wieder in den Eingangsbereich zu gehen und dort zu warten, bis man mich abholt.


Eine Theke im Eingangsbereich war das “Dr. Nakamats Cafe”

Also wieder zurück. Man ließ mich lange warten, bis die Sekretärin durch zwei schwere Türen kam und mich einsammelte. Beide Türen waren jeweils mit einem Passwort gesichert und mit Dr. Nakamats’ Gesicht verziert.
Das Haus hat der Doktor selbst designt, schließlich ist er ja ein Genie. Es soll mit verschiedenen gestalteten Arbeitsräumen seine Produktivität steigern. Die Räume bestehen unter anderem aus einer komplett goldene Toilette, einem Indoor-Swimmingpool und einem “Calm Room” mit Zen-Garten. Alle diese Räume durfte ich nicht betreten, die waren nur dem Doktor vorbehalten.


Überdachter Innenhof des Hauses

Überall im Haus waren einige seiner über 3300 Erfindungen verbaut. So auch auf der Treppe zu seinem Büro im Keller. An der Seite waren die Treppenstufen schräg, um die Belastung auf die Knie beim Aufstieg zu minimieren. Dr. Nakamats hat bei seinen Erfindungen meistens die Gesundheit im Sinn.

Vorbei an vollen Schreibtischen, Regalen und einem allgemeinen Chaos an Dokumenten, ging es zum Büro vom Doktor. Zwei weit ausladende Schreibtische standen in einem fast komplett roten Raum, dekoriert mit Schreibtafeln, Figuren der menschlichen Anatomie, Kameras und Papier, Papier, Papier. Ich sollte vor einem der Schreibtische Platz nehmen, während der Doktor noch an dem anderen zugange war. Er nahm keinerlei Notiz von mir als ich den Raum betrat. Es vergingen ein paar Minuten in denen ich überlegte, ob ich was sagen sollte, doch irgendwann stand er dann auf und ging die drei Schritte zum zweiten Schreibtisch. Er setzte sich hin und guckte mich an.

Ohne Worte gab er mir seine goldumrandete(!) Visitenkarte, die nochmal zeigen sollte, wie großartig er doch ist. Die Anzahl seiner Erfindungen war darauf gelistet, gleich mit dem Hinweis, dass er mehr Erfindungen als Thomas Edison hat.
Etwas überrumpelt nahm ich die Karte an, bedankte mich dafür und für seine Zeit, und gab ihm meine. Wieder wortlos gab er mir ein Buch, eine Art großbebilderte, zweisprachige Autobiografie über ihn.


Cover seiner Autobiografie

Zusammen mit dem Buch gab er mir auch seinen Lebenslauf, kleinzeilig auf einem ganzen A4 Blatt. Dort stand unter anderem, dass er den Nobelpreis gewonnen hat. Das stimmt nicht, denn was er gewonnen hatte war der ig-Nobelpreis, eine Art Anti-Nobelpreis für sinnfreie Forschungen – auch wenn er bis heute der Meinung ist, er hätte den tatsächlichen Nobelpreis gewonnen. Der Doktor bekam die Auszeichnung für die Leistung, seit mehr als 30 Jahren(!) täglich seine Mahlzeiten in Wort und Bild zu dokumentieren. Einer der Aktenordner, die ganze Schränke bei ihm füllen, sah ich auch. Sehr ausführlich. Der Doktor will halt 144 Jahre alt werden, die richtige Nahrung ist dabei sehr wichtig. So trinkt er auch seit Jahrzehnten nichts anderes als “Brain-Tea”, ein Kräutertee, der die Gehirnleistung steigern soll. Diesen “Brain-Tea” gibt es neben anderen seiner mehr oder weniger nützlichen Erfindungen auch im Dr. Nakamats-Shop zu kaufen.

Das Interview lief sehr schleppend. Auch wenn ich der erste deutsche Journalist war, mit dem er sprach, so war es für ihn nur ein Interview von vielen. Viele Fragen, die ich einfach stellen musste, wurden ihm schon mehrmals gestellt und er war dementsprechend müde, sie zu beantworten. Er verwies stets nur auf sein Buch oder ignorierte meine Fragen komplett. Nach einer halben Stunde war ich mit meinen Fragen durch, ohne viele Antworten bekommen zu haben. Ich wollte mir nun ein paar seiner Erfindungen von ihm zeigen lassen, um so auch viele Fotos für eine große Reportage zu bekommen. Doch der Doktor wollte nicht, und schickte seine Sekretärin.

Wir gingen also wieder zurück in den Eingangsbereich, dem auch die “Dr. Nakamats Library” angeschlossen war. Ein Museum seiner Erfindungen.

Ziemlich ungeordnet lagen hier nun Erfindungen, Gegenstände und Dokumente aus mehreren Jahrzehnten Dr. Nakamats rum. Die Sekretärin konnte mir mit beschränkten Englisch nicht bei jedem Gerät alles erklären.


Nakamascope – Filmkamera, erfunden für eine deutsche Filmfirma


Einen Computer hat er natürlich auch erfunden


Auswahl aus seinem Verkaufssortiment


Manga über Dr. Nakamats


Dr. Namats ließ sich mal zur Wahl aufstellen, mit dem Versprechen fünf Erfindungen zu haben, die die Welt retten können. Das hier ist eine davon, eine Maschine um aus Wasser Energie zu machen. Dass das Prinzip als Brennstoffzelle schon länger existiert, hat er beim Erfinden, wie so oft, ignoriert.

Ob ich denn auch mal ein paar der Erfindungen selbst ausprobieren möchte, fragte mich die Sekretärin. “Klar!”, sagte ich, und sie verschwand, denn das müsste vorbereitet werden. In der Zwischenzeit könnte ich den Cerebrex ausprobieren, einen Sessel, der, wie sollte es auch anders sein, die Gehirnleistung steigern soll.

Die Idee ist es, Platz zu nehmen und durch den Vorhang vorm Kopf Licht und Geräusche von der Außenwelt abzublocken. Tja und was soll ich sagen, so ein Tuch vorm Kopf funktioniert, man sieht nichts mehr. Der Sessel ist bequem und das wars dann auch. Er hat keine weitere Funktion, trotzdem wird er an den Strom angeschlossen. Doch er vibriert nicht, wird nicht warm, es ist einfach nur ein Sessel mit Tuch.
Der Doktor selbst benutzt den Apparat mehrmals am Tag.

Die meines Erachtens beste und lustigste Erfindung von Dr. Nakamats sind allerdings seine Springschuhe, die er selbst auch oft benutzt.


Scan aus seinem Buch

Die Idee dahinter ist nicht weit zu springen, sondern normal zu joggen und dabei die Gelenke zu schonen. Es funktioniert tatsächlich sehr gut und macht Spaß.

Die Essenz von Dr. Nakamats, das Faszinierende und Absurde, das findet sich in diesen Schuhen. Denn auf den ersten Blick wirken sie absurd und lächerlich. Der Doktor hat sie aber erfunden, weil joggen zu sehr auf die Gelenke geht. Die Springschuhe federn die Belastung auf die Gelenke ab und funktionieren sehr gut. Zu Anfang sind sie ungewohnt. Wenn man versucht normal zu gehen, oder nur zu springen, findet man kein Gleichgewicht. Doch sobald man anfängt leicht zu joggen, fühlt es sich absolut natürlich an. Der Kerl, der mir die Schuhe brachte und beim Ausprobieren half, drückte ich dann die Kamera in die Hand.


Nach dem Springen lernte ich gleich ein neues Wort: “omoshiroi”, japanisch für ‘lustig’ oder ‘interressant’, weil der Kerl mich ständig fragte, wie ich den Ausflug fand

Der Doktor meinte es durchaus ernst mit dieser Erfindung. Das er sie so durchgezogen hat, ohne auf irgendwelche Stimmen zu hören, die sowas vielleicht für zu absurd halten, spricht für den Doktor und seine Arbeitsweise. Wenn er sagt, dass er die Gesundheit der Menschen mit seinen Erfindungen im Sinn hat, dann meint er das auch so.

Ich ging dann wieder zurück zum Doktor um mich zu verabschieden. Nachdem ich noch ein Foto von ihm machte, wollte er noch eins zusammen mit mir machen. Er stellte sich neben mich hin, gab seiner Assistentin eine Kamera und fragte mich: “Was sagt man in Deutschland, wenn man für ein Foto posiert?”. “…äh ‘Cheese'”, sagte ich. “Von nun sagt ihr: Dr. Nakama-tsuuuu”, sagte er und betonte die letzte Silbe noch mal mit einer ausholenden Bewegung der rechten Hand, die zum Ende hin das altbekannte Victory-Zeichen formte, dass die Japaner immer auf Bildern machen.
“Dr. Nakama-tsuuu”, sagten wir zusammen, und es klickte. Das Foto wollte mir der Doktor dann allerdings nicht zuschicken, auch nachdem ich ihn mehrmals fragte.

Mit wenig Antworten, verwertbaren Zitaten, Bildern und einem dicken Buch in der Tasche radelte ich wieder nach Hause. Nun begann die Recherche.

Bekannt und unkommentiert

In den folgenden Wochen versuchte ich ein paar Meinungen über Dr. Nakamats einzuholen, was sich als durchaus schwierig erweisen sollte. Wenn zwar jeder(!) Japaner, den ich auf den Doktor ansprach, ihn kannte, so war doch in 99% die Reaktion nur amüsiertes Schmunzeln über ihn und seinen Quatsch, den viele aus dem Fernsehen kannten, wo er regelmäßig in Shows auftritt.


Eine seiner ersten Erfindungen: eine Öl-Pumpe, die er für seine Mutter machte, und dessen Gebrauchsprinzip sich bis heute in Handpumpen in Japan findet

Ich habe die Universitäten angeschrieben, an denen er angibt studiert zu haben, doch die wollten weder bestätigen noch dementieren, dass er an dieser Schule war. Auch vermeintliche Kollegen aus der Wissenschaft wollten nicht zusammen mit ihm genannt werden und sagten nichts zu ihm. Er wird halt einfach nicht ernst genommen, auch wenn er es ernst meint.

Im japanischen Patentamt fand ich dann ein paar seiner Erfindungen, komplett mit Beschreibung und Zeichnungen. Darunter diverse Erfindungen fürs Badezimmer und eine Selbstverteidigungs-Perücke. Ja, eine Selbstverteidigungs-Perücke, aus der man innerhalb von Sekunden eine lange Drahtschnur ziehen kann, die man dann als Waffe benutzt.

Dr. Nakamats in die Zeitung

Ursprünglich hatte ich eine große Reportage über ihn geplant, mit großen Bildern und vielen Worten. Das konnte ich nicht mehr machen, da mir der Inhalt fehlte. Als reines Interview ging es eh nicht, also ging es nur als Portrait. Ich bot es also der Berliner Zeitung an, denen ich dann einen viel zu langen Beitrag schickte. Nachdem zwei Wochen lang keinerlei Reaktion auf meinen Text kam, und ich das Geld dringend für die Miete brauchte, fragte ich noch mehrmals nach und bekam eine Absage. Der Text würde als Portrait nicht funktionieren, die These haut nicht hin und ist so nicht druckbar.

Ich war von dieser Absage niedergeschlagen. Nicht nur, dass ich die Miete nicht zahlen konnte, ich zweifelte auch an meinen Fähigkeiten als Schreiberling. Ich schob den Artikel erstmal beiseite und wollte mich später drum kümmern. Insgesamt habe ich dann knappe zehn Monate lang an diesem Artikel gesessen. Er hat mich quasi blockiert, ich traute mich an keinen großen neuen Auftrag rein, eh nicht dieser abgelehnte Beitrag in einer Form ist, die es in die Zeitung schafft. Vorher würde mir auch überhaupt das Selbstbewusstsein fehlen, wieder Angebote zu schreiben.

In der Zwischenzeit passierten zwei Sachen. Der Regisseur des Films, mit dem ich bisher guten Kontakt hatte, auch über Hintergründe zum Erfinder, fragte mich nun, ob ich das Foto für das Filmplakat der Dokumentation machen kann. Cool, sag ich, aber ich müsste etwas verlangen. Schließlich ist das mein Job und ich lebe davon. Ich hätte nicht viel verlangt, vielleicht nur 50€, wohlwissend dass er das Bild und Plakat dann im weltweiten Vertrieb für den Film nutzen würde. Seine Reaktion war Unverständnis, er hätte das nicht von mir erwartet, schließlich würde er auch ab und an kostenlos für coole Projekte arbeiten. Ich sparte mir eine Bezahlung zu rechtfertigen oder drauf hinzuweisen, dass ich über seinen Film berichte und damit ordentlich bewerbe, denn das war sinnlos. Ich beließ es dabei und erwartete, dass er professionell damit umgeht.

Ein paar Wochen später hatte ich noch zwei, drei Fragen zu ihm und den Film. Seine Antwort war erpresserisch. Er meinte, es gibt Journalisten, für die er sich viel Zeit nimmt, und einige, bei denen er das nicht tut. Er machte klar, dass ich die Antworten kriege, wenn ich ihm das Foto gebe, ohne es so konkret auszusprechen. Auf solche Spielchen hatte ich keine Lust, und so schrumpfte der Anteil in der Berichterstattung über seinen Film auf ein geringes Maß.


Scan aus dem Buch

Die zweite Sache, die in der Zwischenzeit passierte, war ein Kontakt zum Studentenmagazin UNICUM. Ein Freund, den ich in Tokyo kennenlernte, hatte jahrelang für das Magazin gearbeitet und sich für mich in der Redaktion eingesetzt. Es war ein langer Kampf, war doch die Redaktion komplett ausgetauscht worden seit seiner Zeit, doch nach vielen Anrufen und Mails hatte er eine Kontaktadresse für mich organisiert. Ich sollte ein paar Themenvorschläge hinschicken und hatte grad nix anderes als Dr. Nakamats. Das Thema kam gut an, und da die Berliner Zeitung ihn eh ablehnte, war das Thema ja frei.

UNICUM gab mir nun eine Deadline, die ich zunächst unabsichtlich ignorierte, da andere Aufträge dringender reinkamen. Ich hatte nach der heftigen Absage der Berliner Zeitung mich auch nicht wieder an den Text getraut. Doch UNICUM war sehr interessiert an dem Thema und verlängerte die Deadline. Wieder in Deutschland war das der Beitrag, auf den ich mich voll konzentrierte. Ich besorgte mir einen befreundeten Redakteur und arbeitete mit ihm an dem Beitrag. Ich hatte grad eine kürzere Version, die zu 95% fertig war, da bekam ich eine Email:

“Hey Fritz, Glückwunsch zum Abdruck in der Berliner Zeitung gestern, mit dem Artikel über Dr. Nakamats!”

Ich fiel aus allen Wolken. Mir hatte keiner Bescheid gesagt, weder jemand aus der Zeitung, noch die zuständige Redakteurin, der ich damals den Text schickte. Ich hatte ja inzwischen wieder bei der Berliner Zeitung angefangen und war bei der Redaktionssitzung am Montag dabei, wo wir auch jedes Mal eine neue Ausgabe der Zeitung bekommen. Ich blätterte die Zeitung allerdings bei der Sitzung nicht durch, sondern packte sie nur in die Tasche.
Nachdem ich nun die Email bekommen hatte, griff ich nach der Zeitung und blättere sie schnell durch. Tatsache, dort war Dr. Nakamats und drüber stand mein Name.

Mein Puls ging hoch und ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Denn hätte ich nicht diese Email meiner Bekanntin bekommen, wäre das komplett an mir vorbeigegangen. Ich vermutete schon ein Kalkül der Zeitung, so an der notwendigen Bezahlung vorbei zu kommen und kontaktierte schon meinen Vater und somit auch den Anwalt.
Er meinte nur, ich soll ruhig bleiben, schließlich sind sie verpflichtet zur Vergütung, wenn sie mein Material mit meinem Namen abdrucken. Ich soll einfach mal anrufen.

Ich rief also an und erklärte meine Situation. Ich wurde von Stelle zu Stelle gereicht, jeder einzelnen war die Situation hörbar peinlich, sowas kommt wohl nicht häufig vor. Am Ende erreichte ich dann den zuständigen Redakteur. Es stellte sich heraus, dass er nur die Urlaubsvertretung war. Die zuständige Redakteurin, der ich vor einigen Monaten meinen Text schickte, war nicht da, und mein Text war wohl nicht gelöscht, sondern in einem Ordner für noch brauchbare Themen gelandet. Die Urlaubsvertretung hatte meinen Text nun aufbereitet und abgedruckt. Es war nun leider keine Kontaktadresse dabei, sagte er mir, sonst hätte er mich noch kontaktiert. Na gut, dass ihn dieser Mangel nicht vom Abdruck abgehalten hat, wa?

Ich wurde dann ins Sekretariat durchgereicht und gab meine Finanz-Informationen durch. Mehr als einen ganzen Monat später kam dann die Vergütung, allerdings nur teilweise. Auf den Rest warte ich heute noch.

Der Artikel war nun gedruckt, aber auch schon UNICUM versprochen. Ich schickte UNICUM die Info, dass der Artikel schon abgedruckt ist, ich dafür aber nix kann. Nach einer Woche Bedenkzeit meldete sich UNICUM wieder und sie wollten weiterhin Dr. Nakamats abdrucken. Sie wissen zwar noch nicht wann, doch ich soll schon mal schicken was ich habe.
Ich schickte ihnen die Version, die ich hatte und ohne Einwände wurde sie genommen. Da der Abdruck noch in den Sternen stand, fragte ich mal vorsichtig nach der Vergütung. Als Antwort kam ein Satz, der mein geknicktes Selbstbewusstsein nach der Ablehnung der Berliner Zeitung und einen glücklichen Gemütszustand als freier Journalist wieder herstellte:

Der Beitrag wird vergütet, wenn ein Redakteur ihn abgenommen und für gut befunden hat, und dieser Moment ist jetzt.

Für die Dezember-Ausgabe von UNICUM war dann noch eine Seite frei und mein Beitrag rutschte rein.
Das ist also das gute Ende von meinem Jahr mit Dr. Nakamats: Nach einem schwierigen Interview, einer langen, glücklosen Recherche und einer heftigen Absage, wurde der Beitrag zweimal abgedruckt. Danach war gewissermaßen der Knoten geplatzt, ich konnte mich wieder frei und produktiv an andere große Themen setzen. Ich bin nun auch um viele Erfahrungen in der Arbeit mit Redaktionen und mit der Recherche reicher.
Vorallem mit der Lektion, dass ein Thema manchmal viel Zeit bis zum Abdruck braucht.

-> Artikel über Dr. Nakamats der Berliner Zeitung vom 4. Oktober 2010
-> Artikel über Dr. Nakamats in der UNICUM Dezember Ausgabe

Post aus Nah-Ost 1: Die Straße nach Palästina

Mitte Oktober war ich eine Woche lang für ein Journalismus-Projekt in Jenin, Palästina. Hier nun meine Geschichte, die auch die Geschichte der Leute ist, die ich begleitet habe und die Geschichte der Menschen, die ich dort getroffen habe. Eine Geschichte aus einer Region, aus der nicht viele Geschichten nach außen dringen, und die doch so viel zu erzählen hat.

Prolog

Eines Tages trudelte eine Email in meine Redaktion ein: Die Organisation “Global Eyes TV” macht ein Videojournalismus-Projekt in Palästina, finanziert vom Auswärtigen Amt. Zum Einen sollten wir in der nächsten Ausgabe auf dieses Projekt aufmerksam machen, zum Anderen konnten wir uns aus der Redaktion auch drauf bewerben. Ich ließ es mir ein Wochenende lang durch den Kopf gehen und bewarb mich.

Ich wusste nichts über diese Region, die Geschichte oder die aktuelle politische Lage. Ich hab den ganzen Konflikt jahrelang ausgeblendet, als er in den Medien auftauchte, weil ich ihn einfach nicht verstanden habe, und auch garnicht verstehen konnte.
Zudem konzentrierte ich mich eh immer mehr auf den Fernen als den Nahen Osten.

Gerade weil ich so wenig über die Region wusste, wollte ich hin. So konnte ich mir möglichst unvoreingenommen selbst ein Bild der Lage machen. Aber das ich mich auf das Projekt, auf eine neue Herausforderung, beworben habe, hatte auch andere Gründe:
Zu dem Zeitpunkt war ich bereits in dem dritten Monat nach meiner Landung in Berlin – und ich war in einem absoluten Tief. Der “Expat Blues” traf mich nun voll.
Expats bzw. Expatriate sind Leute, die von ihrer Firma für einige Jahre ins Ausland gehen und dort in den Zweigstellen u.a. leitende Positionen einnehmen. Nach Ablauf ihrer Expat-Zeit werden sie wieder zurück beordert – und fallen in ein Loch. Im Ausland noch in einer gehobenen Position, kommen sie wieder in den alten Trott ihrer Firma zurück. Einige brauchen Jahre um sich zu erholen.

Mir ging es ähnlich. War ich in Japan noch von allen als Fotojournalist akzeptiert und konnte so arbeiten, wurde ich in Berlin wieder in die Rolle gedrängt, die ich vor meinem Jahr in Japan hatte und aus der ich rausgewachsen war. Alle sahen mich nur als unerfahrenen jungen Fotografen, ohne Abschluss.
Meine erste Bemühungen Arbeit zu finden, als Fotoassistent oder Fotograf bei kleineren Publikationen, fruchteten nicht. Das frustrierte und ich stellte mehr und mehr die Frage, warum ich überhaupt wiedergekommen bin. Ich brauchte nur irgendwie ein Signal, ein Zeichen, oder einen kleinen Erfolg, der mir zeigt, dass meine Anwesenheit in Berlin Sinn hat. Sonst könnte ich ja gleich wieder die Koffer packen und in das Land zurückkehren, in der meine Arbeit befriedigender war.

Schlussendlich bekam ich meinen alten Job bei der Berliner Zeitung wieder, mit einem Foto pro Woche. Die ersten Wochen in diesem Job waren absolut unbefriedigend.
Nachdem ich es gewöhnt war, in Japan große Reportagen zu fotografieren, oder interessante Portraits für 200€ pro Auftrag, gab es in Berlin wenig Spannung und wenig Geld. Das liegt vlt. weniger an Berlin, als an meiner Erwartungshaltung, doch es zog mich immer weiter runter.

Dazu kam, dass ich seit Monaten (!) an einem Artikel saß und nicht weiter kam. Und bevor dieser nicht fertig wird, brauch ich mich garnicht erst an weitere Themen setzen.
Als dann auch noch Besuch aus Tokyo kam, wurde mir dieser Unterschied zwischen meinem aufregenden, hektischen und produktiven Leben in Tokyo und der Lethargie in Berlin, nur noch klarer.

Ich hatte schlichtweg meine Motivation für Fotografie verloren. Nicht nur unbedingt, weil ich kaum eine berufliche Perspektive in Berlin sah. Ich fand einfach nichts mehr spannend. Alles war fad.

Meine Bewerbung und Fahrt nach Palästina war gewissermaßen eine Flucht von all dem, was mich in Berlin frustrierte. Eine Flucht nach vorn.

“Du bist dabei!”

Ich bewarb mich also – und dann blieb es eine zeitlang still. An einem Freitag kam dann eine Email: “Wir haben kaum noch Plätze frei, wer zuerst auf diese Email antwortet, ist dabei”. Die Email kam kurz nachdem ich aufwachte, und glücklicherweise entschloss ich mich, erst die Emails zu checken und danach dann zu frühstücken.
Ein paar Stunden später kam die Bestätigung. Ich war der zweite, der auf die Email antwortete, und hatte somit noch den allerletzten Platz erwischt. Ich war dabei.

Vor der Fahrt waren noch zwei Vortreffen in Berlin angesetzt. Bis auf Eine kamen alle Teilnehmer aus der Hauptstadt.
Die Veranstalter, “Global Eyes TV”, kannte ich schon. Als ich Anfang 2009 beim Berliner Fenster gearbeitet habe, kam mir auch eine Pressemeldung von “Global Eyes TV” auf den Tisch. Global Eyes ist eine Videoplattform für junge Geschichten. Die Idee ist, dass Jugendliche in aller Welt sich eine Kamera schnappen und ihre Geschichte erzählen, fernab von den Dramatisierungen und großen Skandalen der Medien. Wenn ein Erdbeben in Haiti ist, guckt die ganze Welt drauf. Doch wie geht es Jugendlichen sonst dort? Was machen sie? Was finden sie spannend?
Das zu zeigen und eine globale Vernetzung von jugendlichen, ihren Gefühlen, Gedanken und Geschichten herzustellen – das ist die Idee von Global Eyes.

Eine Idee ist allerdings nur so gut wie ihre Umsetzung. Als ich mir damals im Zuge der Recherche ein paar Beiträge auf der Seite anschaute, fiel es mir doch schwer, einige Beiträge bis zum Ende anzuschauen. Um ein Video zu produzieren, braucht es schon ein gewisses Maß an handwerklichen Können, damit die im Video erzählte Geschichte auch verstanden wird.
Ich machte dann einen Beitrag über Global Eyes, der dann auf Sendung ging. Dann gings nach Japan und wieder zurück.

Inzwischen hatte sich bei den Videos auf der Plattform auch einiges getan. Und die Idee von dieser Palästina-Reise war eben auch, dass wir dort hinfahren, mit professioneller Unterstützung und Ausstattung, und dort Geschichten aus der Region erzählen. Wir würden so etwas über Videojournalismus lernen und die dort könnten ihre Gedanken und Geschichten mit uns teilen, die wir dann, einigermaßen ansprechend, ins Netz laden.

Alle Teilnehmer hatten einen, mehr oder wenigen, journalistischen Hintergrund, oder zumindest schon etwas Erfahrung in Print, Fernsehen, Online oder Film. Das machte es sehr angenehm, da alle zwar aus verschiedenen Ecken kamen, es aber ein allgemeines Interesse gab, Geschichten zu erzählen, und sich darüber auszutauschen. Ich fand das sehr erfrischend.

Die Treffen

Beim ersten Treffen waren alle noch nervös und größtenteils schweigsam. Stille macht mich immer unruhig und ich fang dann an zu labern, was mir auch leicht fiel, da zwei Leute aus meiner Redaktion auch dabei waren, und ich so schon jemanden bei den Treffen kannte.

Da ich die meiste Zeit am labern war, konnte ich die anderen nur durch Beobachten einschätzen. Nach einer Woche mit dieser Gruppe musste ich allerdings feststellen, dass ich mit meinen Ersteindrücken komplett daneben lag. Die, die ich für eine anstrengende Ökotussi hielt, ist mir am Ende der Reise am sympathischsten in Erinnerung geblieben. Mit der, bei der ich dachte, die ist nur still und sagt nichts, konnte ich mich am Amüsantesten unterhalten. Und die, mit der ich dachte am Besten klar zu kommen, konnte mich am Ende der Reise nicht mehr sehen.
Und ich, der bei den Vortreffen lange und viel gelabert hat, war in Palästina doch oft mehr für sich und in Gedanken versunken.

So kann der Ersteindruck täuschen.

Der Flug

Als wir Berlin verließen war es kalt.
In dicken Jacken und Mützen trafen wir uns am Flughafen und sammelten uns um unser Gepäck, in dem neben unseren Unterhosen auch Computer und Kamera-Equipment lag. Ich verzichtete auf meinen Computer, der eh schon am Ende seiner Tage war und selbst bei normaler Zimmertemperatur überhitzte. Ich hatte nur meine beiden Kameras dabei und mehr brauchte ich auch eigentlich nicht.
Im Sinne einer harmonischen Zusammenarbeit packte ich aber zusätzlich auch noch frische Kleidung ein.

Die Pässe wurden eingesammelt und die Flugtickets, die von einer Airline sponsoriert waren, wurden verteilt. Es gab kurz eine kleine Verwirrung am Schalter, da in meinem Pass eben nicht “Fritz” vorne dran steht, ich mich aber als solcher beim Projekt beworben hatte, und auch nach meiner Annahme vergessen hatte, das mal in einem Nebensatz zu erwähnen. So stand auch auf beiden Flugtickets “Fritz”, statt dem Namen im Pass.

Es begannen die ersten Pokerrunden um einen Fensterplatz im Flug nach Istanbul, von wo es in einem zweiten Flugzeug dann nach Tel Aviv gehen sollte. Mir war das relativ egal, ich war immer noch damit beschäftigt zu realisieren, wohin die Reise überhaupt gehen sollte.

Ein Ossi im Nahen Osten

Im Flugzeug saß ich dann neben einem älteren Herrn, der von Istanbul weiter nach Syrien flog. Er sprach mich auf die doch größere Gruppe Jugendliche an, mit der ich reiste. Ich erklärte kurz wer wir sind und wohin wir wollen – und er fing an zu erzählen.

Seit mehreren Jahrzehnten ist er im arabischen Raum unterwegs, schon zu DDR Zeiten war er als Ingenieur dort tätig um u.a. Zementwerke zu betreuen. Mir war bis dahin überhaupt nicht klar, dass die DDR dort aktiv war. Doch doch, sagt er, und erzählt von seinen Erfahrung in Arabien.
Ich war viel zu sehr beschäftigt, diesen spannenden Geschichten zu lauschen, als mir exakte Notizen zu machen. Nur ein paar Anekdoten konnte ich mir erhalten:
So ist zum Beispiel in Syrien mal in der Nähe seines Autos eine Bombe hochgegangen, mit mittelmäßiger Sprengkraft aber lautem Knall, und am nächsten Tag wurde er von seinen arabischen Arbeitskollegen als feige verspottet, weil er sich nach der Explosion gleich aus dem Staub gemacht hätte. So etwas waren die wohl mehr gewöhnt, als er.

Er selbst war nicht sonderlich parteitreu, er war nur treu seinem Handwerk, und da war er anscheinend so ausgezeichnet, dass ihn die Parteiführung um die halbe Welt schickte. Ab und an büchste er auch mal aus und reiste umher, aber immer so, dass es keiner mitbekam.
Er hatte ein unglaublich tiefes Verständnis vom arabischen Raum, dass er in einem sehr pragmatischen und oft, durch das hohe Alter, zynischen Tonfall erzählte, und mich so auf die nächste Woche in Palästina vorbereitete.

Neben dem arabischen Raum war er auch in Kuba zugange, und betreute dort eine Fabrik, die von der DDR geschenkt war. Von dort erzählte er mir zwei Geschichten, die mir noch besonders im Gedächtnis blieben:

Einmal war Honecker zu Gast in Kuba und besuchte den Sozialismus bei der Arbeit in eben dieser Fabrik, die mein Sitznachbar betreute. Fidel Castro war bei dem Staatsbesuch natürlich auch anwesend und besuchte mit Erich die Fabrik. Allerdings hatte Castro weniger Augen für den Sozialismus bei der Arbeit, als für eine junge, weibliche Mitarbeiterin. Castro beschäftigte sich also nur mit der jungen Dame, während Honecker etwas alleine in der Halle rumstand. Mitglieder aus Partei drängten dann meinen Sitznachbar doch mal den Erich zu beschäftigen, der könne doch hier nicht einfach rumstehen. Er zeigte Honecker dann ein paar Schalter und Hebel, bis Castro sich wieder zeigte.

Ein anderes Mal in Kuba wollte er zu einem Strand. Nicht unbedingt an einen Touri-gefüllten, sondern einen eigenen, freien Strand. Besonders hatte es ihm der Strand auf einer Insel angetan, die jedoch militärisches Sperrgebiet war und regelmäßig von Booten umkreist wurde.
Er besorgte sich ein paar Kisten Rum und fuhr zur Militärstation. Er bat um Erlaubnis auf diese Insel zu dürfen, doch die Soldaten winkten nur ab. “Ich hab da diese Flasche Rum im Kofferraum….” meinte er, und weckte die Neugier der Uniformierten. Sie ließen sich gern die Flaschen zeigen und meinten “Der Ami kommt heut schon nicht vorbei. Lass uns ein paar Flaschen hier, wir bringen dich hin. Wir müssen dich aber begleiten, okay?”. Zusammen mit den Flaschen, Soldaten und deren Gewehren setzten sie also über.

Knallende Sonne, 30°C und warme Uniformen vertragen sich nicht mit Rum. Die uniformierten Begleitpersonen waren nach wenigen Flaschen schon betrunken und schliefen am Strand ein. Mein Sitznachbar konnte zwar ein Boot steuern, aber er konnte ja schließlich nicht ohne die Soldaten wieder zurück. Er trug deren Körper nun also wieder aufs Boot und nahm ihre Kalashnikows, die den Betrunken vom Körper gefallen sind.

Nach der Landung in Istanbul bat ich ihn um seine Visitenkarte und er gab mir eine Empfehlung für eine lokale Spezialität in Palästina: gekochter ganzer Hammel. Die Augen sollen eine Delikatesse sein.
Die Vegetarierinnen in unserer Gruppe hörten das und äußerten laut ihre Ablehnung, woraufhin mein Nachbar meinte, dass sie doch mal mehr Fleisch essen sollten, wenn sie Kinder kriegen möchten.

Istanbul

Der erste Stopp. Schmiedeeiserne Bänke in der Transit-Lobby, überteuerte Duty Free Kram, viele Chinesen. Ein Mädel aus unserer Gruppe kaufte sich ein frisches Bier und kassierte böse Blicke von kopftuchtragenden Frauen.

Die Nachricht, dass uns ein Fahrer in Tel Aviv wegbricht, erreichte uns in Istanbul. Das bedeutete, dass wir in zwei Fahrten die Gruppe bewegen mussten und ein mehrstündiger Aufenthalt in Tel Aviv eingeplant wurde.
Wir gingen noch einmal unsere Aussagen für die israelischen Beamten durch, falls sie uns nach dem Grund unseres Aufenthalts ausfragten. Wir sollten auf keinen Fall lügen – aber die ganze Wahrheit auch nicht erzählen, wenn sie nicht direkt danach fragten.

Im Flieger nach Tel Aviv machte ich zum ersten Mal Bekanntschaft mit Hummus.
Hummus ist ein Kichererbsenbrei, der mir in der folgenden Woche noch zum Frühstück und zum Abendessen begegnen sollte. Jeden Tag.
Ich verschenkten meinen Hummus schon im Flugzeug und sprach ein ernstes Wörtchen mit meinen Magen, worauf er sich in dieser Woche einzustellen hatte.

Tel Aviv


Flughafen Tel Aviv, der linke steile Gang Arrivals, der rechte Departures

Es war bereits Nacht als unser Flieger ungewöhnlich tief über Tel Aviv hinwegzog. Grenzgespräch, Gepäck und auf die Gruppe warten verzögerten sich, da ein Koffer fehlte und gleich großes Gewese gemacht wurde. Tel Aviv hat aber einen sehr schönen Flughafen.

Zwischen Ausgang und Wartenden befindet sich in der Halle nur eine bauchhohe Absperrung, an deren Seiten ein konstanter kleiner Wasserfall runterlief.

Als wir den Flughafen verließen, spürte ich gleich wieder den Sommer auf meiner Haut, der Deutschland schon vor einiger Zeit viel zu schnell verlassen hatte. Die Luft roch leicht salzig nach Meer und eine frische warme Brise zeigte mir, dass ich nun ganz weit weg von Berlin war. Ich grinste und stellte meinen Rucksack ab, um möglichst viel von dieser Luft an meinen Körper zu lassen.

Wir hatten einen alten VW-Bus und einen Fahrer, allerdings auch mehr als 10 Leute in der Gruppe. Ich plädierte darauf zu bleiben, schließlich war ich noch nie in Tel Aviv und die Aussicht, mal wieder bei warmer Luft aufs Meer zu schauen, hielt mich von der Autotür fern.
Wir teilten uns ohne Streit auf, packten unser gesamtes Gepäck in den alten VW-Bus und sagten dem arabischen Fahrer, dass er uns in ein paar Stunden abholen soll, wenn er den ersten Teil der Gruppe nach Palästina gebracht hatte. Er versicherte uns in der Dunkelheit “Schleichwege” zu fahren und die Grenzposten zu vermeiden. Diese Aussage und das alle Fenster im Auto mit schwarzen Tüchern verhangen war, gab mir zwar zu denken, doch in dem Moment war mir eh nach Meer und Sternenhimmel.
Und zudem saß ich ja nicht im Auto.

Einer aus unserer Gruppe geht auf ein jüdische Gymnasium in Berlin, ohne selbst jüdisch zu sein. Doch er sprach Hebräisch und kannte die Stadt. Er organisierte zwei Taxis, die uns zu einer “netten Ecke” bringen sollten, wo man das Meer sehen konnte.
Die Straße, an der uns die Taxis absetzten, lag direkt am Strand. Feiner Sand auf dem Asphalt blitzte im Kunstlicht der Laternen, doch ich sah eh nur Richtung Meer und Sternenhimmel.

In Berlin sieht man keine Sterne, wegen der Lichtbelastung und dem oft verhangenen Himmel, in Tokyo aus denselben Gründen erst recht nicht. Doch an der Küste hat man ja oft Glück. Ich bedachte in meiner Euphorie über die warme Temperatur allerdings zwei Sachen nicht:

1. Es war Nacht und da sieht das Meer nicht weil es zu dunkel ist.
2. Tel Aviv ist eine Touri-Hochburg und Party-Stadt.


Links das Meer, rechts das Licht

Das Meer rauschte jedoch und der Sand zu meinen Turnschuhen war feiner als ein Ostseestrand je hätte sein können. Wohl auch, weil unweit unserer Position ein Ungetüm mit Scheinwerfern durch den Sand fuhr und ihn in Kreisfahrten durchsiebte. Auf der Straße pusteten zwei Araber, soviel konnte man an der Sprache erkennen, mit einer Art Laubbläser den Sand vom Asphalt Richtung Strand. Für die niederen Jobs wird ein regelmäßiger Grenzübergang gestattet.

Für 10 Minuten am Strand war ich glücklich, und mit mir und der Welt zufrieden. Dann sah ich mich um.

Die “nette Ecke” war zu nachtschlafener Zeit sehr ungemütlich. Angetrunkene junge Gruppen standen auf beiden Seiten der Straße, viele knapp bekleidete Damen stelzten über den Asphalt und schauten den Autos hinterher. Und neben uns am Strand machte sich eine Jugendgruppe breit, die zu lauter Musik feierte und gröhlte. Ab und an büchste einer mal aus um halbnackt ins Meer zu rennen nur um dann wieder triumphierend zur Gruppe zurück zu kehren.
Sicherlich ein Klischee, doch denk ich an Israel, denk ich an Religion, zugeknöpfte Damen und komisch gekleidete Herren. Die Nacht in Tel Aviv… überraschte mich.

An dieser Stelle spaltete sich nun unsere Gruppe. Während unsere blonden Mädels die Neugier der Jungs der israelischen Gruppe weckten und sich zu ihnen setzten, blieben ich, unser Arabisch-Übersetzer & Cutter, und zwei weitere Jungs, der Gruppe fern. Unser Übersetzer, sonst ein sehr geselliger und unterhaltsamer Kerl, äußerte klar seine Unlust sich zur Gruppe zu setzen, und ich teilte seine Meinung. Und auch wenn er sie nicht noch klar benannte, so konnte ich mir die Gründe denken.
Zum Einen war der Alkoholspiegel unserer beiden Gruppen unterschiedlich, und ich persönlich finde solche Gespräche dann immer sehr leidlich. Zum Anderen erwartete ich die Art Gespräche, die ich in Japan so oft geführt habe. Zwar selten mit Japanern, aber fast immer mit internationalen Reisenden in Hostels: Wo kommst du her, cool, deine Sprache klingt ja ulkig, was machst du hier, cool, komm uns doch mal besuchen, blah… Small Talk in gebrochenen Englisch, mit echten Interesse oder nicht, und oft erzwungener Begeisterung für das was der andere sagt, aus Gastfreundschaft oder Unsicherheit. Ich habe diese Gespräche zu oft erlebt und die letzten sind nicht so lange her, als dass ich jetzt hier am Strand von Tel Aviv wieder Lust drauf hätte.

(Am Ende der Reise sprach ich noch mal mit einem der Mädels, die sich an diesem Strand zur israelischen Gruppe setzte. Sie erklärte mir, dass die doch was interessantes zu sagen hatten.)

Unser Übersetzer steht mit dem Knöcheln im Meer, während über ihm ein Licht leuchtet. Das ist nicht der Mond, kein Stern sondern ein Flugzeug im Landeanflug. Steht man dort nachts am Strand sieht man dieses Licht, wie es seinen Schein übers Meer bishin zum Strand zieht und immer größer zu werden scheint, bis es donnernd über einen hinwegzieht.

Wir zogen dann Richtung Stadt und ließen die Mädels zurück. Egal welche Straße wir nahmen, es wurde nicht angenehmer. Vom Dönermann, der von einem von uns 18€ für einen Döner abknöpfen wollte, über all die verstreuten Flyer auf den Boden, die für Prostituierte warben. Diese erinnerten mich übrigens stark an Tokyo, an Ecken in Shinjuku. Nur, dass die Mädchen dort immer Schulmädchen-Uniformen trugen.


In Hebräisch werden nicht nur heilige Schriften verfaßt, sondern auch Werbung für Nutten.

Wir holten uns ein Eis, versuchten Ecken zu vermeiden, die noch unangenehmer aussahen, als die, in der wir uns grad befanden, und gingen wieder zum Strand zurück. Die Mädels saßen immer noch da und waren vergnügt. Noch mindestens vier Stunden bis unser Auto kommt.

Irgendwann löste sich die israelische Gruppe auf und wir hatten unsere Mädels wieder. Gemeinsam gingen wir wieder Richtung Stadt, bis unser Übersetzer stoppte und meinte, er wird hier warten – und ich schloss mich ihm an.
Ich war einfach unruhig. Ich kannte weder Gegend, noch Gebräuche, noch Sprache. Dem Übersetzer ging es ebenso: “Selbst wenn jetzt einer auf mich zukommt, ich könnte ihm nicht erklären, dass er mich in Ruhe lassen soll.” Diese Unfähigkeit machte auch mich unruhig. Zudem lohnte es nicht, bei dieser Dunkelheit, die Stadt mit der Kamera zu entdecken. Wir suchten uns einen Straßenladen, ich kaufte mir einen Eistee und wir nahmen uns einen der vielen Tische, die vor dem beleuchteten Laden in der Nacht auf die Straße gestellt wurden. Sobald ein weiterer Gast kam, wurde ein weiterer Tisch hinzugestellt. Und es waren erstaunlich viele Gäste da, 3 Uhr in der Nacht.

Es war Shabbat, also Sabbat, heiliger Tag. Mir schien es allerdings auch ein Ausgeh-Tag zu sein, viele Lokale um uns rum waren von Jugendlichen besetzt. Allerdings blieben die unter sich und provozierten nicht die Älteren, die mit uns saßen und in der Nacht ihren Tee tranken und schwatzten. Ob es an der Hitze am Tag liegt, dass man sich zum Kaffee oder Tee in der Nacht trifft?
Eine Gruppe älterer Herren, deren graues Haar deutlich auf ihrer braunen Haut selbst in dieser Dunkelheit zu sehen war, spielte laut neben uns Karten.

Ich versuchte nur, wieder zur Ruhe zu kommen und holte meine Kamera raus, um das Leben um uns herum einzufangen.

…und hätte meine Kamera nicht meinen Film gefressen, wäre an dieser Stelle auch ein Bild.

So saßen wir also hier in Tel Aviv, unbekannt und stumm.
Ich habe immer versucht, nicht so raushängen zu lassen, dass wir Deutsch sind. Wer weiß ob ein angetrunkener Idiot mit Holocaust-Verbindung nicht ein Ventil für seinen Frust suchte – und das Ventil sollte nicht mein Gesicht sein.

Das funktionierte ganz gut. Die Jugendgruppe am Strand fand zwar raus, dass wir aus Deutschland kamen, allerdings hörten die auch deutsche Musik aus ihren Boxen, da ging das in Ordnung. Im Straßenlokal, als zahlende Gäste, war der Empfang ähnlich herzlich.
Eine rüstige Dame mit breiter Hüfte und 40-50 Jahren kehrte neben uns die Kippen der Kartenspieler weg und fragte uns, woher wir kamen.

“Where you from? America? I love you!”
“We’re from germany” korrigierte der Übersetzer
“From Germany? I love you!”

Irgendwann, als der Morgen langsam graute und das Schwarz hinter den Hotelhochhäusern der Stadt langsam zum Blau wurde, kam der Rest unserer Gruppe wieder zurück, unser Israel-Experte mit einem Schawarma in der Hand. Er hatte ihn gekauft, doch es war zuviel für ihn und er dachte “vielleicht hat Fritz ja noch Hunger”. Nette Geste, aber mein Magen diskutierte noch mit mir und dem Hummus über die arabische Küche, und verweigerte erstmal alles.

Seit nunmehr 5 Stunden waren wir in der Tel Aviver Nacht unterwegs und unruhig. Auf Drängen vom Übersetzer wurde nochmal der Fahrer angerufen. Er sei auf dem Weg und wir sollten uns an einem bestimmten Ort treffen, in der Nähe der amerikanischen Botschaft.
Nun mit Hebräisch-Kenntnissen im Team fragten wir uns durch. Es wurde immer heller und ich konnte nun auch wieder Bilder machen.


Palmen!

Die Straßenleuchten waren noch an, doch mehr Meer war jetzt schon zu sehen. Wir gingen zur Botschaft, dann von dort um die Ecke, dann hinter ein Haus und dann waren wir wieder an der großen Straße beim Strand, wo uns das Taxi ein paar Stunden zuvor hinbrachte. Aber diese große, unübersehbare Straße als Treffpunkt auszumachen, wäre natürlich viel zu simpel gewesen.

Auf dem Weg zum Auto kamen wir an vielen leeren Schuhen vorbei.

Tatsächlich leere Schuhe, immer in Paaren standen sie am Straßenrand. Ich habe beim besten Willen keine Ahnung, was das bedeuten sollte. Vielleicht haben sich ein paar angeheiterte Gesellen der Schuhe entledigt um barfuß zum Strand zu gehen – und dann wurden sie einfach vergessen. Doch so viele Paare, die an der Straße standen, das musste einen Zusammenhang haben.

Der selbe alte VW Bus lud uns wieder ein. Scheinbar hatte er es über die Grenze geschafft, und wieder zurück.
Kurz nach der Abfahrt schlief bereits die Hälfte der Gruppe ein. Ich konnte nicht, ich war viel zu aufgeregt von all den Eindrücken und hatte auf der Straße nach Palästina stets die Kamera im Anschlag. Bei solch einem intensiven Sonnenaufgang auch verständlich.

Auf der Straße waren wenig Autos, dafür Radfahrer, Fußgänger und auch ganze Schafsherden.

Das Auto hatte seine besten Tage schon hinter sich, die meisten Gummierungen und Polster waren abgerissen oder lose. Einen Gurt gab es nur für den Fahrer und Beifahrer.

Aus den Boxen tönte der schlechteste Musikmix, den ich seit Jahren gehört hatte, über den ich mich konstant auch bei jedem neuen Pop-Fehlgriff laut beschwerte. Es war nichtmal arabische Musik, sondern US-Songs aus den 70er und 80ern, einige schlecht gecovert, abgespielt von einem alten Tape, dessen Band schon zu oft durch das Gerät gequält wurde.

Wir fuhren vorbei an Siedlungen, eingemauert und eingezäunt, oder komplett frei. Der Blick aus dem Fenster erzählte viel, auch wenn nicht mehr alle wach genug waren, hinzusehen und zuzuhören.

Je weiter wir uns von Tel Aviv entfernten, desto karger wurde das Land. Hügel, mit Geröll, Gestein und Gewächs, die mich an die mediteranen Landschaften von Italien erinnerten. Und das war das heilige Land? Hügel voller Felsen?

Nebenbei bereitete ich mich auf den Grenzübergang vor. Viel hatte ich gehört, von intensiven Befragungen und Durchsuchungen, mit vorgehaltener Waffe oder ohne. Israel ist streng, was die Ein- und Ausreise in die besetzten Gebiete angeht. Wir fuhren auf den Grenzposten zu und ich packte die Kamera nach dem Foto weg.

Um die Zeit war der Grenzposten seltsam leer. Je näher wir kamen, desto weniger sahen wir. Aus den Boxen spielte “Knocking on Heavens Door” von einem oftkopierten und abgespielten alten Tape, während wir über die Grenze fuhren.
Und dann… waren wir durch.

Es war niemand da! Kein Mensch kontrollierte uns oder kümmerte sich überhaupt darum, wohin wir wollten. Nach all dem Gerede und Panikmache im Vorfeld sind wir einfach durchgefahren. Ich fing an laut zu lachen.

Mein noch wacher Nachbar guckte mich leicht schockiert an, dass ich aus unerfindlichen Gründen anfing herzhaft zu lachen, doch ich fand das alles einfach nur absurd.
Eine aus unserer Gruppe wachte durch mein Lachen auf und fragte, ob sie den Pass für die Grenze rausholen sollte. Ich lachte nur weiter und winkte ab.

Wir waren nun in Palästina und folgten der Straße Richtung Jenin, dem Ort, in dem wir die nächsten Tage leben werden. Das Land wurde immer karger, die Gebäude provisorischer und abgeranzter. An den Straßen fanden sich erstaunlich viele Autowerkstätten. Zumindest die werden oft gebraucht hier.

Wir fuhren vorbei an leeren Hügeln und aufgegebenen Siedlungen. Fast alle Gebäude umwehte der Hauch des Temporären, als wäre hier nichts für Dauer gebaut und könnte so schnell abgerissen werden, wie es hingebaut wurde.

An den höchsten Gebäuden konnte man den vorherschenden Glauben der Siedlung erkennen. Minarette und Kirchtürme (von denen gab es allerdings weniger) stachen an den Hügeln hervor. Unser Fahrer erzählte von Siedlungen, wie der christlichen Siedlung auf einem Hügel links und eine moslemische Siedlung auf einem Hügel rechts. Zwischen ihnen nur das Tal, die Straße und Harmonie. Die, die in dieser Region Stress machen, sind andere…

Durch den Hügel durch ergab sich dann ein Blick ins weite Tal.

Hier und da mal ein Feld, von denen einige an diesem Morgen dampften. Wir fragten unseren Übersetzer, der die ganze Zeit den Fahrer dolmetschte, wie weit der Weg noch ist, doch bevor dieser wieder übersetzen konnte, antwortete der Fahrer auf Deutsch “Sechsundzwanzig Kilometer”. Wir konnten nur erstaunt sagen “ah Deutsch?” und er sagte “Warum nicht?”. Er hat wohl einen Verwandten in Deutschland und hat ein paar Sachen aufgeschnappt.

Dass er meine ständige Kritik an seiner Musik wohl die ganze Zeit gehört haben musste, wurde mir dann schlagartig klar. Aus Höflichkeit wird er wohl nichts gesagt haben, mutmaßt unser Übersetzer.

De Fahrer fragte: “Wollt ihr mal Kamele sehen?” und ich zückte schon die Kamera. Wir fuhren an einer Kamelfarm vorbei…

…und ein Vorurteil erfüllte sich. Auch wenn ich keine Kamele in freie Wildbahn oder in der Wüste gesehen habe – so etwas gibt es auch nicht mehr. Genauso wenig wie es in Europa Pferde oder Kühe in freier Wildbahn gibt.

Nicht mehr lange nach der Kamelfarm hielten wir an und es hieß, wir sind da. Inzwischen war es 8 Uhr morgens, der Betrieb auf den Straßen im Ort im vollen Gange. Die Sonne knallte hell und wir verdrückten uns ins Hostel. Wir weckten zwar die, die mit der ersten Fuhre ankamen, doch das war uns egal. Naja, mir zumindest.

Ich war nicht müde. Draußen war es taghell. Die Hähne schrien die Morgensonne an und die Martkschreier ihre Kunden. Autos hupten wild und immerwieder hörte man die Hühner. Hupen und Hühner, das war mein erster Eindruck von Jenin.

Ich legte mich in Klamotten aufs Bett und war nicht müde. Oder anders: Ich konnte nicht schlafen. Soviele Eindrücke prasselten in den letzten Stunden auf mich ein, mein Gehirn hatte noch garnicht alles verarbeitet. Müde schrieb ich alles auf, was mir aus den letzten Stunden im Gedächtnis blieb. Ich schloss meine Augen, um sie kurz auszuruhen.

Vier Stunden später wachte ich in Klamotten auf, der erste Projekttag stand an und das erste Treffen war in 20min. Ich spritzte mir etwas Wasser ins Gesicht und machte mich auf dem Weg. Angezogen war ich ja schon, das sparte Zeit…

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Post aus Nah-Ost:

Teil 1 – Die Straße nach Palästina
Teil 2 – Wie Tag und Nacht
Teil 3 – Der Tag der kaputten Kameras
Teil 4 – Männer müssen draußen bleiben

Alles Prima, in Palästina?

Wieder da.
Meine Herren, was ne Reise…

Eine Woche war ich weg, es kam mir aber vor wie mindestens ein Monat. So viele Eindrücke von einem komplett anderen Kulturkreis, so viele Erfahrungen, Gespräche und Impressionen von einem Land, dessen Nachbarn versucht, es so gut wie möglich vom Rest der Welt abzuschirmen.

Ich bin aber auch etwas unzufrieden. Mein Ziel, viele gute Fotos zu machen, konnte ich nicht erfüllen. Oft war es so, dass es mir als Ausländer und Mann gar nicht gestattet war, zu Fotografieren. Das sind die Regeln in einem Land und die habe ich zu akzeptieren. Viel mehr beschäftigt mich aber, dass das, was ich ablichten wollte, gar nicht ablichten konnte:
Ich wollte das Leben dort in Bildern festhalten. Aber das Leben dort verstehe ich als Ausländer, der nur 5 Tage in dem Ort zubringt und die Sprache nicht kann, gar nicht.

Kurz vor der Abreise machte es Klick, und auch wenn das Klick-Geräusch nicht von meiner Kamera kam, so verstand ich doch endlich mehr von dem Ort und dem Leben dort. Doch in dem Moment saßen wir bereits im Bus Richtung Israel.

Israel.
Nach all den Sachen, die ich in Palästina gesehen, gehört und erlebt habe, fällt es mir schwer, nicht negativ über den Besatzer zu schreiben. Eine objektive Berichterstattung über das Thema will und kann ich auch nicht liefern, da ich ja nur die eine Seite vom Konflikt erlebt habe.

Der Staat Israel hat definitiv seine Daseinsberechtigung – auch in dieser Region. Seine Politik, vorallem gegenüber seinen Nachbarn, finde ich aber kritisch bis menschenverachtend. Mehr will ich hier in den kommenden Wochen auch nicht erzählen, als das, was ich erlebt habe. Unwertende Beobachtungen, wie sie passiert sind. Soll sich jeder seine eigene Meinung bilden.

Als Deutscher über Israel zu schreiben ist ja immer so ne Sache. Ich habe auch keine Lust auf Grundsatzdiskussionen, sollten Kommentare in dieser Richtung auftauchen, werde ich sie entfernen. Wenn jemand seine Erfahrungen aus dieser Region teilen möchte, nehme ich die gerne auf, aber das hier ist kein politisches Meinungsforum.
Deutschland kann man übrigens zugute halten, dass es sowohl Israel, als auch Palästina unterstützt. Letzteres wird in den deutschen Medien allerdings kaum kommuniziert.

Nach all den Dingen, die ich gesehen und erlebt habe, wie z.b. die Schicksale und Leben von Gleichaltrigen in Palästina, die unverschuldet eine der größten Arschkarten des Lebens gezogen haben, die es auf dieser Welt gibt, nur weil sie dort geboren sind, da kommt mir der Alltag hier und all die täglichen Probleme so… bedeutungslos vor.

Natürlich versuche ich eine gewisse professionelle Distanz zu wahren als Journalist. Es ist nicht mein Bestreben gegen Israel zu hetzen oder die Probleme dort lösen zu können. Ich seh mich eher als Beobachter.
Das kann ich.

Wer sehen möchte, was unser Projekt in Palästina produziert hat, wird hier fündig (rechte Leiste, die mit “Workshop” im TItel). Die Beiträge funktionieren ohne Kontext allerdings nicht ganz, ich schreibe später noch mal ausführlicher darüber. Mein Beitrag ist der über Frauen, auch wenn ich als Mann mich kaum beteilligen konnte und oft draußen sitzen musste.

Neben vielen Eindrücken habe ich allerdings auch ein paar Viren aus Palästina zurück gebracht. Ich lieg jetzt die nächsten Tage im Bett. Gute Nacht.