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Mit mittlerweile Mitte 20: mittelmäßige Mittel mit mittelfristigen Mitteilungsbedürfnis


Jetzt bin ich also offiziell von “Anfang 20” auf “Mitte 20” gerutscht. Eine Sphäre, die ich in drei Jahren Richtung “Ende 20” verlassen werde.
Am Ende des Jahres Geburtstag zu haben zwingt einen dazu, das vergangene (Lebens)Jahr Revue passieren zu lassen. Beginnen wir mal mit der Ausgangssituation vor einem Jahr:

Ich war gerade einmal ein halbes Jahr zurück aus Tokyo und hatte keine Ahnung wie es weitergehen sollte. Ich war ohne Krankenversicherung, Aufträge und Perspektive. Viel ist passiert seitdem, doch verändert hat sich wenig.

Nachdem ich den kompletten Januar mit einer heftigen Grippe zu kämpfen hatte, folgte im Februar die Ernüchterung der Berlinale. Im März fotografierte ich die Bewerbungsmappe für die Uni. Im April begann ich ein Praktikum in einer Journalismus-Agentur, was meinen Schreibstil nachhaltig verbesserte. Im Mai fotografierte ich als Hausarbeit drei russische Brüder in ihrem Keller, im Juni ging es auf Wohnungssuche, im Juli wieder nach Tokyo, im August zurück nach Berlin und im September nach Grasdorf. Seit Oktober geht es nun immer zwischen Berlin und Hannover hin und her. Für Aufträge blieb da wenig Zeit.

Umzug und Uni gehen ins Geld. Der November war besonders heftig, es herschten wieder Tokyoter Zustände – pleite und kein Geld für Essen. Wie es finanziell die nächsten Monate weitergeht, weiss ich nicht. Aber ich bin optimistisch.

In den letzten Wochen habe ich ein paar krasse Angebote bekommen, zu denen ich mich jetzt noch nicht äußern darf. Nur so viel: Im nächsten Jahr werde ich sehr viel schreiben.

Übrigens: eine schnelle Umfrage unter meinen Kommilitonen hat ergeben, dass ich tatsächlich die schlechteste Ausrüstung von allen Fotojournalismus-Studenten in Hannover habe. Meine Kamera ist die leistungsschwächste im gesamten Studiengang, mit nur zwei Objektiven, ohne Blitz und sonstigen Schnickschnack. Trotzdem sprach mich der Professor noch nicht drauf an, da ich bisher immer Wege gefunden habe, die Schwächen auszugleichen und mich nicht auf meine miserable Technik zu verlassen. Doch auch da gibt es Grenzen, sodass ich spätestens im folgenden Jahr aufrüsten muss. Bis dahin quäle ich noch mich und meine Olympus.

Auf ins neue Jahr.

Zwiebeln für Fukushima II – Achterbahn in Fukushima

Im Sommer war ich mit einer Gruppe von freiwilligen Helfern in Minami-Soma, einem Ort in der Präfektur Fukushima – 40km vom Reaktor entfernt. Ein Teil des Ortes liegt im 20km Bannkreis rund um das havarierte Kraftwerk, die Mehrheit der Bevölkerung hat die Stadt bereits verlassen. Kontaminierter Reis und radioaktiv belastetes Gemüse sind hier ihr größtes Problem.Fortsetzung von Teil 1

Der Geruch von dem verbrannten Gummi zog langsam in die Fahrerkabine unseres Laster. Links und Rechts waren nur Wälder und an diesem Morgen verirrten sich nur wenige Autos in die Berge von Fukushima. Wir stoppten also, um die Quelle zu finden.

Die Strecke durch die Berge war bewusst so gewählt, dass wir einen großen Bogen um den Reaktor machen. Doch das ewige Auf und Ab unserer tonnenschweren Ladung machte sich nun bemerkbar. Die Bremsen qualmten.
Zigarettenpause.

Es war nicht die erste Panne auf dieser Fahrt. Die ersten 50km sind wir mit offener Ladetür gefahren, bis uns dann ein freundlicher Fahrer auf dem Freeway anhupte und auf die Tür zeigte. Wir stoppten dann auf der Autobahn, ich hüpfte raus und zog die Tür zu. Zum Glück war noch alles drin. Bei der nächsten scharfen Kurve wären die Zwiebeln auf den Schnellstraßen von Tokyo gelandet.

Der Flughafen von Fukushima war von unserem Stopp nicht weit entfernt, aber dorthin umdrehen wollten wir nicht.

Wir quälten den Laster also wieder den Berg hinauf.

Bei jeder Talfahrt heulten die Bremsen auf. Ich schaute etwas skeptisch zu unserem Fahrer, doch der grinste nur durch seine Sonnenbrille auf die Fahrbahn. Fukushima Rollercoaster ohne Bremsen.

Wir zogen vorbei an alten Bergdörfern, malerischen Landschaften und Schluchten. Das Zirpen der Zikaden in den Wäldern war lauter als die Musik bei uns drinnen.
“Schön hier”, sagte ich in die Kabine. “Hier haben wir das letzte Mal die höchste Radioaktivität gemessen”, war die trockene Antwort. Ich machte mein Fenster wieder zu.

Am Ortseingang vom Minami-Soma standen Sonnenblumen, die ihren Höhepunkt schon überschritten hatten. Keiner kümmerte sich mehr um sie und sie gingen nun ein in der heissen Morgensonne. Der Eindruck von Vereinsamung zog sich noch ein wenig durch den Ort. Einige Geschäfte waren zu, manche Häuser leer und offen. Reisfelder am Wegesrand verwilderten. Wer weg konnte, ist weg.

Wir fuhren zunächst zum Bahnhof, wo wir auf örtliche Freiwillige treffen sollten, um mit ihnen den Tag zu planen.

Der Bahnhof war leer. Es fährt kein Zug mehr durch Minami-Soma, die Gleise sind dicht. Nur noch ein einzelner Angestellter saß in seiner Kabine im Bahnhof und guckte uns irritiert an. Auch wenn kein Zug mehr fährt, er sitzt da noch pflichtbewusst. Bis zum Schluss.


Das linke Gleis führt Richtung Reaktor und wurde seit März nicht mehr befahren. Mittlerweile wird es deutlich sichtbar vom Gestrüpp überwuchert.

Vom Bahnübergang soll man sogar Fukushima-Daiichi sehen können, sagte man mir, doch so sehr ich auch die Augen zusammenkniff, ich konnte das Kraftwerk nicht entdecken.
Minami-Soma machte den Eindruck einer lebendigen Kleinstadt. Menschen waren unterwegs, der Supermarkt gut besucht. Doch hier und da gab es Anzeichen dafür, dass nicht mehr so alles ist wie früher.

Vor dem Bahnhof stand eine große Karte von Minami-Soma und Umgebung. Als ich mich davor stellte, fing eine blecherne Stimme an aus der Uhr zu mir zu sprechen. Eine Begrüßung für Touristen, ausgelöst durch einen Bewegungssensor vor der Karte. So viele Reisenden werden nun nicht mehr nach Fukushima kommen und der Begrüßungstext spricht nur noch zu Minami-Somas Leere.

Es machte sich nun langsam bemerkbar, dass wir die Nacht durchgefahren sind und nicht geschlafen haben. Ich gönnte mir eine leicht radioaktive Cola aus dem Automaten am Bahnhof.


Radioaktive Cola. Refreshing & Uplifting.

Es trafen nun auch die ersten Freiwilligen ein. Angeführt von einem etwas kauzigen Kerl mit Sonnenbrille und Sonnenhut, der seine Hose zum Trocknen auf seine Kühlerhaube gelegt hatte. Eine Gruppe von älteren Dame wurde dann noch unterstützt von jüngeren Herren, alle mit den schwarzen Hemden ihres Sportvereins.
Der Leiter unserer Gruppe, mittlerweile im dritten T-Shirt seit Beginn der Reis, setzte mit amerikanischen Akzent zur Rede an um auf den Tag einzustimmen.

Sein Japanisch geriet jedoch bald an seine Grenzen, sodass er die Details dann lieber durch andere vermitteln ließ. Der Plan war wie folgt: Heute würden wir an drei verschiedenen Orten, wo Flüchtlinge aus Fukushima oder der Tsunami-Region untergekommen sind, Essen verteilen. Für Kinder gibt es zusätzlich noch Süßigkeiten-Pakete und Spielzeug. Über die Bereitschaft der Weissen aus dem Westen war man sichtlich gerührt.

Die erste und zweite Verteilungsaktion fanden in den provisorischen Lagern von Minami-Soma statt: Die Aluminium-Barracken, die die Regierung für Leute aufgestellt hat, deren Haus im 20km Bannkreis um den Reaktor steht oder die ihr Zuhause im Tsunami verloren haben. Ein paar hundert Personen leben jeweils in diesen Lagern.

Graues Aluminium auf grauen Kies und nichts, was in der Hitze dieser Mittagssonne Schatten bietet.


Radioaktiver Kiesel

Wir stellten die Trucks nebeneinander und bauten um die Ladeflächen eine Verteilungsstation auf.

Die Bewohner des Lagers stellten sich schon in einer Reihe auf und warteten darauf, dass die angekündigte Verteilung beginnt.

Die Frauen blieben am Wagen und verteilten an ihren Stationen die zugeteilten Mengen. Pro Person und Haushalt gab es eine bestimmte Anzahl Kartoffeln, Wasserflaschen und Früchten, die verteilt wurden. Wir Männer waren eingeteilt, immer wieder die Ladefläche mit Lebensmitteln aus dem hinteren Teil des Trucks zu befüllen und um den älteren Personen dabei zu helfen, ihre Lebensmittel nachhause zu kriegen. Denn die Güter waren reichlich, die Tüten und Kisten schwer und die, die hier wohnten, oft jenseits der 60.

Meine Aufgabe war es, meine Hilfe beim Tragen anzubieten. Das bedurfte oft einiger Überzeugungskraft. Denn auch wenn die Dame über 80 war und sich mit einem Buckel zum Laster quälte, die Höflichkeit macht es ihnen dann doch schwer, neben dem kostenlosen Essen auch noch um Hilfe beim Tragen zu bitten. Man entschuldigte sich öfter, als sich zu bedanken.
Ich nahm mir dann meine Kollegen zum Vorbild, die einfach beherzt nach den Tüten griffen und vor den Damen vorweg liefen. Da war kein Platz mehr für Diskussionen.

Mit meinem sporadischen Japanisch unterhielt ich mich etwas mit den Personen, denen ich beim Tragen half. Standard-Frage war natürlich: Wo kommst du her? Viele dachten, dass wir alle, wie der Leiter, aus Amerika stammten. Eine entgegneten mir auf meine deutsche Herkunft auch: jaja, die deutsch-japanische Freundschaft, wir helfen uns immer aus, nicht wahr? Wie die deutschen Medien Japan nach Fukushima geholfen haben, verschwieg ich.

Beim Abliefern konnte ich manchmal einen Blick in die Wohnungen in den Barracken riskieren. In ihrer Gleichheit erinnerten sie mich an Baukästen. Kasten an Kasten gab es immer das gleiche Layout in den nummerierten Blöcken. Grob imitierten sie den Schnitt einer japanischen Wohnung. Holz und Reismatten wurden jedoch gegen Stahl und Plastik ausgetauscht.

Man warnte mich, nicht zu persönlich zu werden. Ich sollte keine Fotos von Personen vor ihren Barracken machen, weil es ihnen oft peinlich sei, hier zu hausen. Alkoholmissbrauch und Suizidraten seien hoch unter den Bewohnern, sagte man mir, und ich gab mir Mühe, keine intimen Fragen zu stellen. Die wenigen persönlichen Fragen, die ich hatte, gingen oft ins Leere und wurden nur mit einem höflichen Lächeln beantwortet – wenn überhaupt.

Eines dieser Lager war direkt neben einem Reisfeld gebaut, das aus einem Bilderbuch stammen konnte. Die Trostlosigkeit der farblosen Aluminium-Baracken war geradezu in einem zynischen Kontrast zu dem saftigen Grün des Feldes, neben dem sie standen. Doch das saftige Grün ist trügerisch. Das dieser Reis radioaktiv belastet ist, ist klar. Das Risiko des Verzehrs und der Verarbeitung sollte man lieber nicht eingehen. So bleibt den Leuten nur auf den Reis zu starren, den sie nicht essen dürfen.

Nach den ersten zwei Verteilungsaktionen war ich bereits fertig. Die knallende Sonne, die hohe Luftfeuchtigkeit von über 90% und die Anstrengung nach einer Nacht ohne Schlaf gingen nicht ohne Spuren an mir vorbei. Einer der Helfer sah mich nur an und meinte zynisch “Ihr Medien-Leute seid keine harte Arbeit gewöhnt.”. “Ja”, keuchte ich, “wir schreiben nur drüber”.


Knie der Kompetenz II

Die letzte Aktion des Tages war in einem grauen Neubau. Hier lebten auch Familien, die ihr Zuhause seit März verloren hatten. Ähnlich wie in den Barracken war es unsere Aufgaben, die Essens-Kiste in die Wohnungen zu tragen. Vier Häuser mit je sechs Stockwerken. Ohne Aufzug.

Meine Arme zitterten, meine Hände verloren ständig den Halt an den Kisten. Alleine schaffte ich keine Kiste mehr nach oben, ich brauchte immer Hilfe oder kleinere Kisten. Oben angekommen sah man mir meine Erschöpfung dann stets an. Ob man denn etwas für mich tun könnte, fragte man. Ja, stöhnte ich, etwas zu trinken wäre nett. In der Hoffnung, einfaches Leitungswasser zu bekommen, schwitzte ich leicht gebeugt vor dem Apparment. Eine Mutter kam heraus und drückte mir zwei Dosen Kaffee und zweimal Gemüsesaft in die Hand. Beides wollte ich eigentlich nicht, aber ihre Höflichkeit ablehnen auch nicht. Aus ihrer Sicht hätte es so ausgesehen: Da kommt ein Blonder den ganzen Weg aus Deutschland um uns Kisten mit Kartoffeln und Zwiebeln in den fünften Stock zu schleppen, und dann nimmt er nicht mal unsere Dankbarkeit an.

Diese Menschen haben alles verloren. Besitz, Haus und womöglich auch noch Freunde und Verwandte. Trotzdem wahren sie noch ihre Höflichkeit und ihr Gesicht. Vielleicht gerade weil sie nicht mehr viel haben als das. Wer bin ich dann, ihnen das zu nehmen?

Ich nahm den Kaffee und den Saft und verteilte ihn an meine Kollegen. Mein Körper fiel ins Gras. Mehr ging nicht mehr.
Mehr musste zum Glück auch nicht mehr, denn die letzte Kiste ging gerade raus.
Die Arbeit war getan, das Essen für heute verteilt. Wir waren zu erschöpft, um über das Schicksal der Leute morgen nachzudenken. Für heute hatten ein paar hundert Personen frische Zwiebeln und Kartoffeln ohne radioaktiven Belag. Das sollte uns erstmal reichen.

Der Leiter erinnerte mich dann wieder daran, dass wir tatsächlich noch in Fukushima waren: “I’d like to run a Geiger counter on your ass, Fritz”. Erst dachte ich, dass er mich anmachen wollte. Und als ihm bewusst war, wie die Botschaft ankam, fing er auch mit den anderen an zu lachen. Doch schnell wurde er wieder ernst und ermahnte mich, dass der Boden hier sicherlich erhöhte Radioaktivität aufweist. Das Lachen verstummte und der Moment der Heiterkeit verschwand so schnell wie er kam. Ich stand auf, wischte mir die radioaktiven Grashalme vom Gesäß und fragte ihn, wie es jetzt weitergeht.
Er plädierte dafür, so schnell wie möglich nach Tokyo zurückzufahren. Doch die örtlichen Aktivisten luden uns noch zum Essen ein. Mit seiner Gegenstimme wurde der Vorschlag angenommen.

Wir fuhren zu einem herschaftlichen Anwesen. Traditionell japanisch und ungewöhnlich groß für ein Haus mitten in der Stadt. Die Damen vom Vormittag hatten kräftiges Beef-Curry zubereitet und wir langten alle zu. Mein Gesicht war inzwischen so rot wie das Curry. Dort, wo ich mir ein Handtuch um den Kopf gebunden hatte, zeichnete sich ein deutlicher Rand vom Sonnenbrand ab. Als dann das Vanille-Eis zum Dessert gereicht wurde hatte jeder in der Runde mal über meine Stirn gelacht. Diese Spur von Fukushima sah man nach meiner Rückkehr in Berlin noch.

Der Leiter und die zwei Fahrer lagen auf der Veranda und dösten weg. Im mittlerweile fünften Shirt seit Tokyo lag der Amerikaner auf dem lackierten Holz und hatte alle Viere von sich gestreckt. Ich war immernoch im selben Hemd unterwegs, dass ich nach dem Aufstehen in Shibuya angezogen hatte. Inzwischen war das über 25 Stunden her.
Noch ein Gruppenfoto und das Versprechen bald wieder zu kommen, und schon ging es heim.

Es sollte geradewegs Richtung Tokyo gehen wäre da nicht… wäre da nicht ich gewesen, der darauf bestand auch mal das Tsunami-Gebiet zu sehen. Ein kleiner Umweg an der Küste entlang hätte unsere mittlerweile leeren Trucks dorthin geführt. Unser Fahrer war inzwischen zu müde, um mit mir darüber zu diskutieren. Er reichte mir das Handy und meinte nur erschöpft, dass ich das mit dem Leiter klären sollte. Ich unterbreitete meinen Wunsch und der Leiter meinte, wir sollten abstimmen. Nach einem Wahlgang in jedem unserer drei Autos ging es küstwärts, denn nun war auch die Neugier bei den anderen geweckt.

Es ging also ins Tsunami-Gebiet….

Fortsetzung folgt in Teil 3

In Hannover einschlafen, in Berlin aufwachen


Bin die letzten Wochen immer gependelt. Wochenende in Berlin, Woche in Hannover. Wochenende für Freunde und Arbeit, Woche für Uni. Zwischen zwei Haushalten zu pendeln, da muss man sich organisieren. Hat man noch genug warme (und saubere) Klamotten im Schrank vor Ort, oder muss man noch was einpacken? Was hält sich noch ein paar Tage Kühlschrank und was entwickelt über die Zeit ein Eigenleben und spricht zu mir nach meiner Rückkehr?

Jetzt ist erstmal Schluss damit. Dieses Jahr werd ich Hannover nicht mehr ertragen müssen sehen. Dafür werd ich mal überfälligen Kram abarbeiten. Textaufträge und Finanzamt. Rock’n’Roll.

Zwiebeln für Fukushima I

Im Sommer war ich mit einer Gruppe von freiwilligen Helfern in Minami-Soma, einem Ort in der Präfektur Fukushima – 40km vom Reaktor entfernt. Ein Teil des Ortes liegt im 20km Bannkreis rund um das havarierte Kraftwerk, die Mehrheit der Bevölkerung hat die Stadt bereits verlassen. Kontaminierter Reis und radioaktiv belastetes Gemüse sind hier ihr größtes Problem.

Fukushima spaltet nicht nur Atome sondern auch Gemüter. Wenn ich nach meiner Rückkehr in Deutschland mal beiläufig erwähnte, dass ich in diesem Sommer in Fukushima war, wichen die Leute meist instinktiv zurück. Auch wenn ich mich nur einen Tag lang dort aufhielt – das reicht schon, um den Status eines Leprakranken zu bekommen.
Auch wenn mittlerweile jedem Deutschen Fukushima mindestens genauso bekannt ist wie Hiroshima, so ganz stimmen die Termini meistens nicht. Es gibt die Präfektur Fukushima, deren Hauptstadt ist Fukushima (City) und von dort sind es nochmal 60km bis zum Reaktor Fukushima-Daiichi (Fukushima Nr. 1). Doch der Name Fukushima, auf was er sich auch beziehen mag, löst immer eine gewisse Vorsicht beim Gesprächspartner aus.

Als ich diesem Sommer in Japan war, wollte ich unbedingt auch in den Norden. Allein, um mir selbst ein Bild von der Lage zu machen, ein halbes Jahr nach dem Beben vom 11. März. Ich war zuvor ja nur auf die lauten Medien angewiesen, die inzwischen Japan wieder vergessen hatten. Ein Blogeintrag bei einem deutschen Kollegen aus Tokyo machte mich dann auf das Projekt “Save Minami-Soma” aufmerksam.

Save Minami-Soma ist ein Projekt, welches sich rein durch Spenden finanziert und zum Großteil von in Japan lebenden Ausländern verantwortet wird. Der Kontakt war schnell hergestellt, auch wenn die klare Ansage war, dass ich nur als freiwilliger Helfer mitkommen könne und nicht als Fotograf. Es war zwar gewünscht, dass ich auch Bilder mache, doch nur wenn gerade nichts mit anzupacken ist.
Ich willigte gerne ein.

Mit Verspätung erschien ich am Treffpunkt in Roppongi in Tokyo. Einer der beiden Trucks, mit denen wir in der Nacht Richtung Norden fahren sollten, stand schon vor dem Parkplatz. Den anderen würden wir gleich noch abholen. Schon als ich am anderen Ende der Straße eintraf, erkannte mich der Leiter des Projekts als Helfer, auch wenn ich ihn an dem Tag zum allerersten mal traf. Nicht viele blonde Westler verirrten sich in diese Seitenstraße.
Der Projektleiter kam in den 80er Jahren aus den USA nach Tokyo. In Japan lebte er mehre Jahre lang als Gelegenheitsmodel ohne Visum. Verdienen konnte er damals ganz gut. Über 2.000 Euro am Tag waren als Gage keine Seltenheit. Er war einer der ersten, der den riesigen Bedarf an westlichen Models in Tokyo ausnutzte. Heute seien es doch zu viele von ihnen in Tokyo, beschwerte er sich, und die Gagen wären im Keller. Ein bisschen verärgert war er auch darüber, dass die Marktlücke, die er früher entdeckte und ausnutzte, nun von anderen ebenso ausgenutzt wird. Japanisch spricht er bis heute kaum. Für das, und das Visum hat er seine japanische Frau.

Ihm gefiel die Rolle des Ausländers, der ganz alleine Japan rettet, sehr. Frustriert mit der langsamen Art, wie die japanischen Freiwilligendienste agieren, gründete er selbst sein eigenes Projekt. Dies sollte nun seine zweite Fahrt nach Minami-Soma sein, bis zum jetzigen Zeitpunkt im Dezember sollten noch zwei weitere folgen.

Mit dabei war noch ein Brite, der nach drei englischen Worten bei mir schon erkannte, dass ich aus Deutschland stammte. Ich musste mir im Laufe der folgenden Reise noch diversen Scherze in der Hinsicht anhören, doch im Gegensatz zu denen vom Amerikaner, trafen die vom Briten meistens und brachten mich auch zum Lachen. Zusammen fuhren wir zum Ort, wo wir die Trucks beladen sollten.

Die Paletten mit Wasserflaschen, Dosen mit Obst & Gemüse und Tüten mit Süßigkeiten für die Kinder standen schon vor den beiden offenen Trucks, als wir ankamen. Wie die gemieteten Trucks waren auch sie durch Spenden finanziert. Vieles kam auch von Second Harvest Japan, vor deren Büro wir uns hier trafen. Sie sind vergleichbar mit den Tafeln, die in Deutschland Nahrungsmittelspenden sammeln. Vor dem Tsunami waren sie vorallem dafür bekannt, Essen an Obdachlose zu verteilen. Seit März ist Second Harvest Japan jedoch verstärkt im Norden Japans unterwegs.

Der Rest der Gruppe, der ungefähr 10 Leute angehörten, warteten schon hier auf uns oder traf nach und nach ein. Es waren nur vier Japaner dabei, darunter die beiden einzigen Damen. Der Rest war divers. Der deutsche Blogautor, durch den ich vom Projekt erfahren habe, war ebenfalls vor Ort. Er hatte Spenden auf seiner Website gesammelt, die er nun dem Leiter des Projekts überreichte. Ebenso war ein Lehrer aus Kanada dabei, dessen Schüler durch Kuchenbasare und Flohmärkte Geld für die Kinder im Tsunami-Gebiet sammelten. Mit ihm, und einem Japaner, der längere Zeit in den USA lebte und etwas amerikanisiert war, saß ich vorne im zweiten Truck.

In diesem Sommer in Japan habe ich viel über die Freiwilligen erfahren, die sich nach dem Tsunami Richtung Nord-Japan aufgemacht haben oder es nach wie vor regelmäßig tun. Bei einem habe ich sogar in Tokyo übernachtet. Die Gründe, warum sie helfen, ist bei jedem unterschiedlich. Und so hatte auch bei dieser Fahrt nach Fukushima jeder seine eigene Beweggründe. Ich wollte helfen, aber mir auch ein Bild von der wirklichen Lage vor Ort machen. Andere wollten einfach mit anpacken, weil ihnen die Geschwindigkeit der japanischen Behörden nicht ausreichte. Doch ich glaube, es befriedigt auch gewisse Bedürfnisse nach Abenteuer und Heldentum.
Als mir der Amerikaner zum ersten Mal von seinem Projekt erzählte, sprach er wie im Rausch. Und auch die anderen, als sie mir von ihrem ersten Einsatz erzählten, berichteten von dem Adrenalin, dass sie eine Woche lang verseuchten Schlamm schaufeln ließ. Am Ende gab es die Anerkennung und Dankbarkeit der Einheimischen. Die nimmt man gerne mit, wenn man zurück in seine eigene Wohnung nach Tokyo fährt, während die, den man eine Woche lang geholfen hat, in ihre Notbehausungen zurückkehren und dort mehrere Monate lang bleiben müssen.

Wie auch immer die eigene Motivation zu begründen ist – wichtig ist nur, dass reale Hilfe geleistet wird. Und sei sie noch so klein. Doch den Eindruck von Katastrophentourismus konnte ich nicht verlieren. Die Fahrt ist für die Helfer kostenfrei.
Vollbepackt fuhren wir los. Die Fenster vom Truck waren offen und eine leichte Sommerbrise wehte in die Kabine. Aus den Lautsprecher tönte U2 mit “A beautiful day” während wir auf dem Weg nach Fukushima waren.

Um den Stau rund um Tokyo zu vermeiden, fuhren wir nachts. Unterwegs wollten wir die fast vollen Trucks noch mit frischen Gemüse bei einem Großhändler befüllen. Doch bis dahin waren es noch ein paar hundert Kilometer. Gegen 2 Uhr machten wir eine Pause auf einem Rastplatz um den folgenden Tag durchzusprechen.


Der Leiter des Projekts, deutlich zu erkennen am Knie der Kompetenz

Um 3 Uhr sollte es weitergehen, jeder könne also noch eine Stunde schlafen bevor es morgen dann richtig los geht. Wir können entweder in den Trucks pennen, oder auf einer Parkbank. Es war Sommer und warm genug. Doch ich persönlich kann nicht so einfach den Schalter auf “Schlaf” legen. Ich zog also über den Rastplatz.

In den Kabinen und Vordersitzen der Autos schliefen überall diejenigen, die kein Hotel mehr erwischt haben oder sich keins leisten konnten. Beleuchtet vom Rastplatz und den Amaturen sahen die leblosen Körper aus wie fehlplatzierte Leichen. Als ich versucht habe, sie zu fotografieren, sind die toten Körper allerdings aufgewacht.

Zurück am Truck stand dann schon der Kanadier, rat- und rastlos wie ich.

Beherzt machte er den Truck auf, legte sich eine Plane zurecht und schlief zwischen Dosensuppen und Kohlrabi ein.

Ohne bessere Optionen tat ich es ihm gleich und machte es mir hinten bequem.


Geräuschkulisse

Hinter mir war die Autobahn, neben mir die rumorenden Trucks und ab und an fuhr ein Reisebus vorbei. Sofern die Insassen noch wach waren, wunderten sie sich, was denn ein blonder Westler hinten auf einem Truck treibt.


Ausblick von der Ladefläche

Gegen 3 Uhr kam mir dann der Brite entgegen, lächelnd und recht aufgedreht. Ob er denn schlafen konnte, fragte ich ihn. Nein sagt er, aber er hätte schon zwei Tassen Kaffee intus. Gleich wird er sich wieder ans Steuer vom ersten Truck setzen.

Der nächste Stopp unsere Karawane, dem zwei Kleinlaster und ein Kombi angehörten, sollte der Gemüse-Händler sein. Es war noch dunkel, als wir ankamen.

Die frischen Kisten stapelten sich schon, bereit für uns sie mitzunehmen.

Doch vor Sonnenaufgang sollte erstmal nichts passieren, hieß es dann. Der Händler hätte nicht so früh mit uns gerechnet, und wir sollen erstmal warten. Viel mehr konnten wir auch nicht tun.

Wir parkten unsere Autos vor einem Conbini. Umgeben war er nur von Reisfeldern und einsamen Landstraßen. Ich wartete die ganze Zeit auf den Sonnenaufgang. Da sie nicht kommen wollte, ging ich kurz aufs Klo. Als ich wieder rauskam, war die Sonne einfach da. Als hätte sie auf meinen Moment der Unachtsamkeit gewartet.

Wir versorgten uns mit Essen und Trinken. Einige dösten weg, in der Erwartung der Anspannung vom folgenden Tag.

Als es dann hell wurde, konnten wir endlich das Gemüse aufladen. Kartoffeln, Rettiche und Zwiebeln für die Leute in Fukushima.

Der Truck war nun berstend voll.

Von nun an hatten wir die Sonne als Begleiter.

Die Route, die wir nahmen, war bewusst so geplant, dass sie uns in einem weiten Bogen um das Kraftwerk und die radioaktiven Hotspots vorbei führt. Bei ihrer ersten Tour hatte die Gruppe zwei Geigerzähler vorne an den Truck geschraubt. Die gefährlichen Regionen waren ihnen bekannt.


Unser Fahrer


Der Leiter, Herr des Geldes und der Lebensmittel, an der letzten Tankstelle vor Fukushima

Wir fuhren immer dem vorderen Truck hinterher…

…nur noch durch einen Tunnel…

…und wir waren dem Ziel nahe.

Wie unsere Arbeit in Minami-Soma aussah und wie es im Tsunami-Gebiet aussieht, steht dann in den nächsten beiden Teilen.